Berlin, Deutschland (Weltexpress). Pünktlich zum Jubiläum des Deutschen Herbst schickt Klett-Cotta die erste Biographie der Gudrun Ensslin auf den Markt. Erstes Anliegen der Autorin ist, Ensslin vom Geruch der radikalisierten und überdrehten Pfarrerstochter zu befreien, ihr die Klischees aus Film und Populärliteratur vom Gesicht zu reißen und ein Stück Seele hinter der Terroristinnenmaske offen zu legen. Weil die Zeitzeugen rar gesät sind und Familienmitglieder Ensslins sich einem Gespräch verweigern, werden die schriftlichen Hinterlassenschaften Ensslins zu einem wesentlichen Punkt der biografischen Analyse. Gleichauf arbeitet vorsichtig, umgeht RAF-Mythen und hypothetische Vermutungen diverser Vorgänger, hält sich an Fakten.
Über die Kindheit (normale, beliebte Schülerin, fleißig und engagiert) in der Pfarrersfamilie, Vater musisch interessiert und politisch nicht auf Nazilinie, Mutter neben der Kindererziehung blass, das Studium, die Literaturbegeisterung und die universitäre Forschungstätigkeit (Hanns Henny Jahnn), die Liebe (der Autor Bernward Vesper, Sohn des Naziautors Will Vesper, später Andreas Baader) landen wir bei der RAF. Die Übergänge und Kausalitäten der Entwicklung zu erklären, ist von Anbeginn Ziel der Biografie. Die großen Debatten der Zeit (Vietnamkrieg, Atombombe, nicht belangte Naziverbrecher in der BRD, US-Imperialismus) sind prägend für Ensslins Weg in den Terrorismus.
Die Autorin öffnet keine neuen Ennslin-Schubladen. Sie wendet hier scheinbar Bewährtes ein wenig, sortiert um, hütet sich vor Spekulationen, gibt den schriftlichen Äußerungen Ensslins breiten Raum.
Wer flinke Enthüllungen erwartet, wird enttäuscht sein. Es ist ein Buch der leisen Töne, das uns Ensslins Abgleiten in den Terrorismus ein wenig verständlicher macht.
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Ingeborg Gleichauf, Poesie und Gewalt, Das Leben der Gudrun Ensslin, 350 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, mit Abbildungen, Klett-Cotta Verlag, 1. Auflage Stuttgart 2017, ISBN: 3-608-94918-6, Preis: 22 Euro (D)