Gottesdienst – Berlinale Wettbewerb: Koji Wakamatsu legt mit „Caterpillar“ erschütternde menschliche Kriegsfolgen aus Japan vor

Szene aus dem japanischen Film "Caterpillar"

Als er ihr in diesem Zustand präsentiert wird, schreit sie auf und läuft davon und das ist die einzige normale menschliche Reaktion in dem Film. Alles andere, was sie sich selber dann abtrotzt, ist dem Überich geschuldet, das ihr befiehlt, im Namen der übergeordneten Mächte diesen Frondienst, eben den Gottesdienst auf sich zu nehmen. Der bedeutet konkret: sich dauernd von dem, was an ihrem Mann noch funktioniert, sein Geschlechtsorgan, penetrieren zu lassen. Ein anderes Wort fällt uns dafür nicht ein. Auch wenn fast immer mildtätig für den Zuschauer ein durchsichtiger Vorhang diesen Akt verschleiert, ist uns im Kino selten etwas so an die Nieren gegangen, wie dieses unaufhörliche Bestreben des Mannes, wenigstens genital zu funktionieren und seine ihm als Gottesdienst willfährige Frau dazu zu mißbrauchen.

Denn, daß es Mißbrauch ist, ist ihren Reaktionen anzumerken, die sie mühsam vor ihm verbergen will und dann doch voller Abscheu auf ihn einschlägt, aber dennoch ihren Gottesdienst vollbringt, von dem wir im Lauf des Filmes immer stärker den Eindruck gewinnen, daß es ein Götzendienst sei. Genauso wie sie unaufhörlich vor sich hinsagt, daß das gemeinsame Leben nur aus Essen – ekelhafte Szenen sind das – und Schlagen besteht. Wüßte diese gebeutelte Ehefrau, was wir seit Anfang des Films wissen, würde sie diesen Dienst aufkündigen. Ihr Ehemann hat nämlich als Leutnant im Krieg ein chinesisches Mädchen erst vergewaltigt und dann einfach erschossen. Immer wieder kommt diese Sequenz, die wir zu Anfang sehen, ins Bild, als Erinnerung des Invaliden auf die Leinwand, wie als Erinnerung für die Zuschauer.

Denn das ist die Absicht des Regisseurs, des 1936 geborenen Koji Wakamatsu, daß wir nicht vergessen, oder, so wir es noch nicht wußten, eingedenk sind, daß der chinesisch-japanische Krieg, den Japan am 15. August 1945 verloren hatte, einer der grausamsten der Welt war und mit seinen 20 000 Toten die Kriegsfolgen des 2. Weltkrieges auf 60 000 anschwellen läßt. Daß diese Zahlen mitten im Film auftauchen in blassen Farben und mit Bergen von Leichen unterlegt, das fährt einem genauso in die Glieder wie die Zahlen von menschlichen Opfern, die zur selben Zeit die US-Atombomben in Hiroshima und Nagasaki forderten: 140 000 und 60 000 Tote. Aber der Regisseur läßt keinen Zweifel daran, daß er Japan und die kaiserliche Herrschaft nicht aus der politischen Verantwortung entläßt. Das betont er in einem Interview, das zum Film abgedruckt wurde. Dort geht er vor allem auf die bis heute ungeklärte Situation ein, daß das Japan einverleibte Korea auf die schlimmste Weise gedemütigt wurde, die koreanischen Gefangenen nach Japan deportiert und großenteils ermordet wurde und daß dieses Unrecht bis heute politisch in Japan nicht aufgearbeitet ist, keine Entschuldigung vorgebracht und keine Entschädigung gezahlt wurde, was er anmahnt.

Auf dies hinzuweisen, ist also Anliegen des Films, der Film selbst aber thematisiert die Politik des Kaiserhauses oder die internationale Antwort überhaupt nicht. Der Film zeigt nur Menschen, denen Menschenunwürdiges zugemutet wird, was uns am Beispiel der Ehefrau im alltäglichen Leben erzählt wird. Als nämlich der Krüppel vor allen wie ein abgelegtes Paket von den Militäroberen auf dem Dorfboden abgelegt wird, denn gehen oder sich bewegen kann er nicht, da verlassen sein Vater und die Schwester sehr schnell die Ehefrau mit dummen Sprüchen, wobei wir im Nebensatz noch mithören können, wie gut es sei, daß man die Ehefrau nicht wie geplant zu ihren Eltern zurückgeschickt habe. Was die Dorfgemeinschaft dieser Frau nun als ehrenvolle Aufgabe andient, in dem jeder sie auf die Orden anspricht und die hohe Ehre, die ihr als Frau eines so Ausgezeichneten widerfahre, ist so gemein, so abgrundtief verlogen und zynisch, daß einem vor Abscheu die Haare zu Berge stehen.

So erreicht dieser Film etwas, was nur zutiefst menschliche Filme möglich machen, nämlich daß man gebannt und betroffen 85 Minuten einem menschlichen Drama zuschaut, dessen politische Implikationen einem als pazifischer Krieg sehr gut bekannt sind, dessen spezielle menschliche Dimensionen für die Beteiligten: den Ehemann als Gott des Krieges, sprich: als halb schwachsinniger Krüppel und die Ehefrau als seine Gottesdienerin, aber noch niemals jemand so ehrlich, so verzweifelt und so eindrucksvoll auf die Leinwand brachte. Bleibt noch den Titel zu erklären. Caterpillar ist die Raupe und als eine solche, eine fette Raupe, wird der Mann im Film, das übrigens auf einem Roman basiert, bezeichnet. Dieser, dessen Tragik hier einmal nicht an erster Stelle steht, wie sonst bei kriegsdekorierten Helden üblich, robbt sich zum Schluß des Films auf seinem Leib über die Wiese ins seichte Gewässer, auf dem man ihn abschließend als aufgeblähtes Bündel tot treiben sieht. Es ist der erste Freiheitstag, der Krieg ist vorbei, vorbei auch der Gottesdienst für Shigeko.

Titel: Caterpillar

Land: Japan 2010

Regisseur: Koji Wakamatsu

Darsteller: Shinobu Terajima, Shima Ohnishi

Bewertung: * * * *

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