Görlitz: Pensionopolis an der Neiße

Blick über den Marienplatz mit dem Dicken Turm

Doch die Stadt war nicht nur finanziell ein Gewinn, sie besaß auch Kultur und einen hohen Unterhaltungswert. Hinzu kam die wunderbare Lage. Ein paar Stündchen nur, und man war in Prag. Das Riesengebirge lag einem zu Füßen, und Breslau vor der Tür. Auch die Kur- und Wintersportorte Waldenburg, Hirschberg, Schreiberhau und Krummhübel waren nicht fern. Als 1929 die Weltwirtschaftskrise kam, ging das Steuerparadies sang- und klanglos unter. Geblieben ist die Erinnerung. – Die soll nun kräftig aufgefrischt werden. Mit gezielten Info-Paketen buhlt die Geburtsstadt unseres Fußballhelden Michael Ballack um Rentner, die bereit sind, ihren Alterssitz aus westdeutschen Landen an die Neiße zu verlegen.

Gewöhnen müssten sich die frisch Zugezogenen allerdings an einige sprachliche Eigenheiten. So sagen die Görlitzer „nu“, wenn sie „ja“ meinen. Und „ölf“ statt „elf“. Auch das landläufig gerollte „rrrr“ ist ein sprachliches Muttermal der Oberlausitzer in Niederschlesien. Gemeint ist mit dieser geografischen Bezeichnung jener Teil des einstigen Deutschlands, der nach dem 2. Weltkrieg westlich der Neiße von Schlesien übrigblieb. Obwohl Görlitz von Bomben verschont blieb, hat der Krieg doch tiefe Spuren hinterlassen. Seit 1945 ist der Himmel über Görlitz geteilt. In einen polnischen Himmel und in einen deutschen. Und auch die Stadt hat zwei Hälften. Auf der polnischen Seite heißt Görlitz seither Zgorzelec.

Durch ihren Reichtum an historischer Bausubstanz zählt Görlitz zu den bedeutendsten Flächendenkmalen der Bundesrepublik. Obermarkt, Untermarkt, Kaisertrutz, Ochsenbastei, Oberlausitzer Bibliothek, Biblisches Haus, Ratsapotheke, die östlichste Stadt Deutschlands besitzt ein nahezu unzerstörtes Architektur-Gesicht von einmaliger Schönheit. Über 3500 historische Sehenswürdigkeiten haben die Denkmalpfleger in der 56 724-Einwohnerstadt gezählt. Wie die Lebensringe eines Baumes, so wachsen, vom Rathaus ausgehend, Spätgotik und Renaissance, Barock, Gründerzeit und Jugendstil auf engstem Raum. Kein Wunder also, dass Görlitz jede Menge Liebhaber hat. Heimliche und öffentliche. Einer ist darunter, der große Unbekannte, der seit 1995 der Stadt jährlich eine Million DM zukommen lässt. Die sogenannte Altstadtmillion. 511 500 Euro. Auch in diesem Jahr ist sie wieder pünktlich beim Stadtkämmerer eingetroffen. Die 16. Altstadtmillion! Mit dem Geld des anonymen Spenders wurden bisher über 500 Projekte der Stadt gefördert. 2008 wurden z. B. Grabstätten auf dem Nikolei-Friedhof saniert, die Beleuchtung der Peterskirche erneuert und ein historischer Pferdebahnwagen restauriert.

Staunend geht der Besucher durch Straßenfluchten der Gründerzeit, die Berliner Straße ist die interessanteste Geschäftsmeile der Stadt. Wer bummeln möchte, ist hier richtig. Viele kleine Läden, Gaststätten und Boutiquen fordern dazu auf, das Geld mit Freuden auszugeben. Die Berliner Straße beginnt am Bahnhof, der, 1914 bis 1916 erbaut, seinerzeit zu den schönsten Deutschlands zählte. Imposant sind die Gründerzeit- und Jugendstilbauten der Berliner Straße mit ihren schönen Fassadengesichtern. Sie begleiten uns bis zum Postplatz. Hier steht die spätgotische Frauenkirche von 1486. Ihr Westeingang ist reich und ungewöhnlich bebildert. Mit sich balgenden Hunden und wilden, musizierenden Engeln.

Gleich neben den Engeln steht ein Tempel aus Blattgold, Licht und Glas. Ein Konsumtempel. Das letzte im Original erhaltene Großkaufhaus Deutschlands. Interessant ist der Lichthof im Inneren, der Anklänge an den Jugendstil hat. Erbaut wurde das einstige „Kaufhaus zum Strauß“ (das schon in zahlreichen Filmen als Kulisse mitgespielt hat) 1912/13 nach Plänen des Potsdamer Architekten Carl Schmanns. Zu kaufen gibt es hier allerdings nichts mehr. Seit einiger Zeit ist das Warenhaus wegen Insolvenz geschlossen. Seither kümmert sich eine Bürgerinitiative um die kranke Immobilie. Nur eine Geldspritze kann das Baudenkmal noch retten.

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Reise-Infos: Görlitz-Information & Tourist-Service, Fleischer-Str. 19, 02826 Görlitz, Tel.: (03581) 47 57 0; Fax: (03581) 47 57 47

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