Globale Vermessung – Wechsel im deutschen Alltag (1999-2009) aus chinesischer Sicht

Jade Yang: In den neunziger Jahren kamen viele Chinesen nach Deutschland, um vom hiesigen Wissens- und Technik-Vorsprung zu profitieren und natürlich, um der sprichwörtlichen chinesischen Hochachtung und Neugier gegenüber ausländischen Gegebenheiten zu entsprechen. Größten Erfolg hatte in jener Zeit die- oder derjenige, der oder dem es gelang, eine Ausbildung mit anschließender beruflicher Integration zu erreichen. In Deutschland herrschte gönnerhafte Mentalität – man gewährte ggf. großzügig und gleichzeitig gewissermaßen herablassend die Teilnahme am deutschen Alltag. Die Verdienstmöglichkeiten waren in Deutschland in den neunziger Jahren sehr viel höher als in China, und das Leben war hier vergleichsweise als luxuriös zu bezeichnen. Mittlerweile hat sich vieles geändert. Integration wird in Deutschland wegen des Arbeitsplatzmangels mißtrauisch beäugt, Integrationspapiere – Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis – haben einen exorbitant hohen Stellenwert. Allerdings ist der „Run“ von chinesischer Seite auf das „Leben in Deutschland“ abgeflaut. Heute sind die Verdienstmöglichkeiten in China vielfach gleich oder höher als in Deutschland, vor allem aber sind die Aufstiegschancen junger, qualifizierter Mitarbeiter in China wegen der boomenden Wirtschaft herausragend gut, inklusive staatlicher oder firmenseitiger Vorteilsangebote wie kostenloses Wohnen und hohe Einstiegsbezahlung. Wobei in chinesischen Großstädten die Durchschnittsfamilie in großen drei- und vierzimmrigen Wohnungen lebt, ausgestattet mit allem selbstverständlichen Wohnkomfort wie Fernheizung, Küche, Balkon, Bad/WC, Fahrstuhl usw. Die Gehälter der Manager in Städten wie Peking, Shanghai, Dalian, Shenyang, Wuhan liegen nicht selten bei einer Mio. RMB (ca. 100.000 €) p.a.; die Unternehmen sind als Mittelstandsfirmen zu mehr als fünfzig Prozent privatisiert.

Walter Fetscher: Gibt es heute in der Lebenseinstellung junger Manager Unterschiede zwischen Deutschland und China?

Jade Yang: In China möchten Frauen unbedingt eine Familie haben; das ist vorrangig. Bei deutschen Frauen ist das m.E. nicht so stark ausgeprägt. Hier kann durchaus die berufliche Entwicklung auch von Frauen vorrangig gesehen werden. – Männer wollen in China wie in Deutschland vor allem Karriere machen. In China gehört dazu vor allem das Bauen persönlicher Netzwerke. Kompetente Manager werden in China von Staat und Wirtschaft stark gefördert: überall sieht man heute in leitenden Positionen junge Menschen, die hervorragend kompetent agieren. In China werden Jobs im Überfluß angeboten; Arbeitsplatz-Risiko besteht nur bei Unfähigkeit; die Firmen haben Angst, daß gute Mitarbeiter „gehen“, um sich an anderer Stelle noch besser zu etablieren. – In Deutschland ist wegen des Arbeitsplatzmangels und der von der Unternehmensseite ausgeprägten Geringschätzung des Wertes der Mitarbeiter-Persönlichkeit, gepaart mit dem Streben nach Gewinn-Maximierung „um jeden Preis“, die Bezahlung meist schlecht, ebenso die Möglichkeit der Auswahl eines „passenden“ Arbeitsplatzes stark eingeschränkt. Vice versa ist das Vertrauen seitens der Mitarbeiter in die Unternehmensleitung m.E. z.Zt. sehr gering. Das liegt an der häufig praktizierten Heuschreckenmentalität, an der persönlichen, oft kriminellen Bereicherung der Top-Manager und auch an der firmeninternen Drei-Klassen-Gesellschaftsstruktur aus wenigen Fest-Angestellten und überwiegend zeitlich befristet angestellten oder geliehenen Arbeitskräften.

Walter Fetscher: Warum kommen immer noch so viele Chinesen nach Deutschland?

Jade Yang: Ich hoffe, daß diese „Zuwanderung“ aus China, die in der typisch chinesischen Bewunderung ausländischer, andersartiger Kultur und Leistungsfähigkeit begründet ist – Goethe, Kant, Bach, Diesel, Humboldt, Marx, Leibniz, Einstein, Karajan, Grass, Porsche usw., wir kennen und bewundern sie alle – sich weiter positiv entwickelt und zum andern auch immer mehr Deutsche nach China gehen, zum Studium und zum Arbeiten: nur so ist ein Verstehen und echte internationale Kooperation möglich und auf Dauer als ein Faktor politischer Sicherheit denkbar. Allerdings wird der Strom aus China nach Deutschland um so geringer werden, je mehr sich die Erkenntnis vom „Verglühen“ der „Strahlkraft“ Deutschlands in China verbreitet und je mehr sich China vom Schwellenland zur führenden Wirtschaftsnation wandelt.

Walter Fetscher: Birgt diese Entwicklung nicht auch eine Vielzahl von Chancen zur offiziellen, staatlich-wirtschaftlichen Kooperation?

Jade Yang: Denkbar wäre das schon. China hat aktuelle Erfahrung in der Durchführung großer infrastruktureller Maßnahmen, die das Land wirtschaftlich enorm voranbrachten: das war die Neustrukturierung der Automobilwirtschaft in den neunziger Jahren, durch die die in mehrere hundert Einzelbetriebe verzettelte Autoproduktion optimiert und als Schrittmacherindustrie etabliert wurde, das war die aus mehr als zwanzig Staudämmen bestehende energiewirtschaftlich bedeutsame „Zähmung“ des Yangtse, das war die Pionierleistung des Baus der Hochland-Eisenbahn-Trasse in Tibet, das war sicher auch die großartige Olympiaveranstaltung in Peking und das ist aktuell die wasserwirtschaftlich bedeutsame Flußlaufverbindung des Gelben Flusses und des Yangtse. Durch diese technisch wirtschaftlichen Anstrengungen haben sich die Strukturen der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas gefestigt, bei gleichzeitiger nachhaltiger Arbeitsplatz-Schaffung und -Sicherung durch diese Maßnahmen. – Vorstellbar wären z.B. gemeinsame Maßnahmen zum Bau einer logistischen Verknüpfung der europäischen Atlantikküste mit der asiatischen Pazifikküste, um so die jeweiligen Wirtschaftszentren beider Regionen zum gegenseitigen Nutzen zu verbinden. Der Bau einer neuen Hochgeschwindigkeitseisenbahntrasse für diese mehr als 10.000 km lange Strecke – z.B. für einen Cargo-Transrapid auf der Basis einer gemeinsamen Entwicklung – könnte die Wirtschaft in ungeahnter Form ankurbeln, mehr als nachhaltige fünf Mio. Arbeitsplätze schaffen, zentralasiatische Entwicklungsregionen wirtschaftlich, kulturell und touristisch erschließen helfen und last not least die Stärken Europas und Asiens zum weltweiten Nutzen bündeln helfen.

Es ist unverständlich und ein Jammer, daß z.Zt. alle Welt auf die traurigen Ergebnisse krimineller, nutzloser Bank-Hasardeure starrt und sich in den für unser aller Zukunft so wichtigen Chancen und Möglichkeiten bremsen läßt. Das sollten wir alle nicht zulassen!

Ich bin sicher, daß Politik und Wirtschaft kurzfristig wieder Tritt fassen und die vorhandenen Möglichkeiten nutzen; für Deutsche, für Chinesen, für weltweiten Nutzen.

Walter Fetscher. Ich danke Ihnen für das Gespräch.

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