Dargestellt wird hier das letzte organisierte Massenverbrechen der Nazis. Auf der Flucht vor den heranrückenden alliierten Truppen hatte die SS gemeinsam mit Polizisten und freiwilligen Helfern Hunderttausende Häftlinge der Konzentrationslager ins Landesinnere getrieben und, wenn sie nicht mehr weiterkonnten, wahllos ermordet. Ein Massenverbrechen war es nach den Worten von Günter Saathoff, Vorstand der Stiftung »Erinnerung Verantwortung Zukunft« (EVZ), im doppelten Sinne: nicht nur nach der Vielzahl der Opfer, sondern auch im Hinblick auf die Vielzahl der Täter. An den Massakern waren neben der SS auch Zivilisten, Wehrmachtsangehörige, Beamte und Bauern, Feuerwehrleute, Volkssturm und HJ direkt beteiligt. Unzählige Einwohner sahen die Häftlingszüge durch ihre Orte ziehen, meist untätig, manche machten mit, wenige halfen. Es war öffentliches Morden vor Millionen Augenzeugen.
Geschätzte 785 000 Menschen wurden im Frühjahr 1945 auf die Todesmärsche getrieben, anfangs auf Befehl Heinrich Himmlers, später oft chaotisch, auf eigenen Antrieb der SS-Leute, die in Panik geraten waren. Die Häftlinge sollten den alliierten Truppen nicht lebend in die Hände fallen. Wie viele solcher Züge es gab, ist nach Auskunft des ITS nicht hinreichend erforscht. Sie führten kreuz und quer durch Deutschland und die okkupierten Länder, zum Beispiel von Blechhammer/Oberschlesien nach Groß-Rosen/Niederschlesien, von Groß-Rosen nach Dora-Mittelbau/Harz, weiter nach Flossenbürg, Bergen-Belsen und Sachsenhausen. Von Lieberose mitten durch Berlin nach Sachsenhausen, von Ohrdruf über 395 Kilometer nach Dachau, von Halberstadt 510 Kilometer nach Gießen. Zigtausende Gefangene füllten die Straßen. Allein aus Flossenbürg wurden im April 1945 16 000 bis 20 000 Menschen auf die Todesmärsche getrieben. Wie viele Häftlinge unterwegs umkamen oder ermordet wurden, ist nicht ermittelt. Die Todesmärsche allein aus dem Kz Buchenwald forderten 7 800 Tote. Überlebende schätzten die Todesopfer ungefähr auf ein Viertel der Stärke. Die Toten wurden in den Gemeinden in Massengräbern verscharrt. Auch nach der Befreiung starben viele Überlebende an Entkräftung und Seuchen.
1946 organisierten die Alliierten über die UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration/Hilfs- und Wiederaufbauorganisation der Vereinten Nationen) die Identifizierung der Toten, um ihnen ihre Namen zurückzugeben. Der Internationale Suchdienst, angesiedelt im hessischen Bad Arolsen, leistete eine mühevolle Arbeit, zu der auch die Versorgung und Rückführung von Gefangenen und Zwangsarbeitern, das Auffinden von Familienangehörigen und die Versorgung verwaister und versprengter Kinder und Jugendlicher gehörte. Der von Winston Churchill ausgerufene Kalte Krieg spaltete die Alliierten. 1947 verließ die UdSSR das ITS, 1951 wurde die Identifizierung der Todesopfer eingestellt. Bis dahin waren 1435 Leichen identifiziert worden. Die Tausenden namenlosen Toten bleiben eine Wunde, die nie verheilen wird.
Berichtet wird auch von heuchlerischen und zynischen Ausreden von Bürgermeistern und anderen Amtsträgern über ihre »Ahnungslosigkeit«, mit der sie dem Morden zusahen und die Folgen vertuschen halfen.
Bei der Eröffnung der Ausstellung am Sitz der Stiftung EVZ in der Lindenstraße in Berlin war ein Überlebender der Todesmärsche anwesend: der 84jährige Eric Imre Hittig, Jude aus Siebenbürgen, heute in Antwerpen ansässig. Was Hitter von seinem Leben und vom Leben seiner Familie erzählt, war für die meisten Besucher eine Bestätigung dessen, was sie wussten: der Holocaust war ein Verbrechen. Doch wenn man es im einzelnen hört, scheint es unglaublich, was Menschen aushalten mussten und wozu Menschen fähig waren. Und dass es faschistische Bewegungen gibt, die sich so etwas ausdenken und durchsetzen. Juden und Christen lebten in seiner rumänischen Stadt einst friedlich zusammen, bis zur Okkupation durch Horthy-Ungarn. Die weiteren Stationen des Imre Hitter: 1944 Deportation der Familie in das Ghetto Koloszvar, Abtransport nach Auschwitz, Trennung der Familie, Vergasung der Eltern, Zwangsarbeit im Außenlager Wüstegiersdorf, im Januar 1945 Todesmarsch mit 8000 bis 9000 Menschen ins tschechische Trutnov, weiter nach Flossenbürg, Befreiung von amerikanischen Truppen in Schwarzenfeld. Sattessen, Typhus, Lazarett, Camp für überlebende Kinder und Jugendliche (Hitter war 17), im Oktober 1945 Emigration nach England. Auf dem Marsch konnte Hitter nicht mehr laufen, zwei andere Gefangene schleppten ihn weiter. Die SS trieb sie in eine Scheune, erschoß nachts Gefangene, er konnte sich verstecken.
Hitter sagt: »Man weiß nie, warum man überlebt. Ob du isst, arbeitest, umgebracht wirst, es ist nur Zufall, hängt von der Laune der SS ab.« Das sagt ein freundlicher, bescheidener, betagter Mann, der auf dem Marsch glaubte, er schafft es nicht mehr.
In Berlin können nur wenige Besucher die Ausstellung sehen. Sie steht in einem Dienstgebäude in der Lindenstraße, das nur von Montag bis Freitag von 10 bis 15 Uhr geöffnet hat. An den Feiertagen gar nicht. Aber das ist es nicht. Für eine breite Vermittlung braucht es einen anderen Rahmen. Sie gehört in jedes Klassenzimmer. Und sie gehört in das Gemeindeamt und in die Kirche in jedem Dorf, durch das die Todesmärsche gezogen sind. Jeder dort soll sich fragen: Und bei uns? Was lief bei uns ab? Und: wie sieht unser Denkmal aus? Wer reißt mal das Unkraut aus? Wer hat es beschmiert? Dass die Exposition nur sieben Tafeln umfasst, macht sie für viele Räume geeignet. Hat man im ITS daran gedacht, wie die Ausstellung in die Orte kommen soll, wo die Todesmärsche durchgezogen sind? »Da brauchten wir ja 50 Stück!«, meint der Wissenschaftliche Mitarbeiter René Bienert. Warum nicht? Das Geld könnte sicherlich die Bundeszentrale für Politische Bildung aus dem Etat abzweigen, mit dem sie die Schulkinder über die böse DDR aufklärt. Einrichtungen wie in Bad Arolsen sind politisch begründet und haben eine politische Funktion, aber so weit reichen die Überlegungen nicht, die Ausstellung genau dort, an den wunden Punkten, zu platzieren, da, wo die eigentliche »Erinnerungsarbeit« geleistet werden muß. Gerade dort müssen die peinlichen Fragen gestellt werden.
Bedenkt man, dass von den Toten der Todesmärsche Zehntausende nicht identifiziert, zum Teil noch nicht einmal gefunden worden sind, ist es mehr als peinlich, dass der Volksbund Kriegsgräberfürsorge mit Riesenaufwand und staatlicher Förderung in aller Herren Länder die Gebeine deutscher Soldaten ausgräbt und bestattet, während sich um die Ermordeten der Todesmärsche kaum noch jemand kümmert. Es war ja nicht »das Feld der Ehre«, wo sie gestorben sind. Auf einer Tagung der Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse im mecklenburgischen Penzlin wurde berichtet, dass die Denkmale für die Opfer der Todesmärsche sogar geschändet werden — »von Unbekannt«.
Ausstellung »Spurensuche. Die Todesmärsche in den Dokumenten des International Trading Service (ITS)«, Stiftung EVZ, Lindenstrasse 20-25, 10969 Berlin, bis 22.Januar 2014, Montag bis Freitag 10 bis 15 Uhr außer an Feiertagen, bitte klingeln