Multikulturalität, Religion und Meinungsfreiheit sind die Themen der neuen Produktion von Lloyd Newson, die am 25.08. diesen Jahres am Sidney Opera House uraufgeführt wurde und jetzt im Haus der Berliner Festspiele Deutschlandpremiere feierte.
Das DV8 Physical Theatre – der Name der 1986 in London gegründeten Company steht sowohl für „Dance Video 8“ als auch für deviate (von der Norm abweichen) – ist bereits zum dritten Mal zu Gast bei der spielzeit’europa. Zuletzt war es 2007 im Haus der Berliner Festspiele zu erleben mit der Welturaufführung des Stücks „To Be Straight With You“, das mit dem französischen Kritikerpreis Grand Prix de Danse ausgezeichnet und für die Laurence Olivier Awards und den Dora Award in Toronto nominiert wurde.
Aus den Recherchen für dieses Stück, eine Erforschung von Toleranz und Intoleranz im Bezug auf Religion und Homosexualität, ergab sich die Motivation für „Can We Talk About This?“ Homosexuelle Muslime, die von Lloyd Newson und seinem Team interviewt worden waren, hatten von unangenehmen Erfahrungen in ihren eigenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften in Großbritannien berichtet.
Zu der Zeit befragten auch das Meinungsforschungsinstitut Gallup und das Centre für Muslim Studies 500 britische Muslime über ihre Einstellung zu Homosexuellen mit dem Ergebnis, dass keiner der Befragten Homosexualität für akzeptabel hielt. Und schließlich erlebte Lloyd Newson bei offiziellen Treffen wie im privaten Kreis immer wieder Zögern und Vorbehalte, wenn er die Notwendigkeit erwähnte, der religiösen Intoleranz entgegenzutreten.
Mehr als 40 Personen wurden für „Can We Talk About This?“ interviewt, VertreterInnen aus Politik, Medien, Kunst, Forschung, Wissenschaft und sozialen Organisationen wie auch der islamistische Aktivist, der vor der dänischen Botschaft in London demonstriert hatte mit der Forderung, den Zeichner der Mohammed-Karikaturen zu köpfen.
Die englischen Texte, deutsch übertitelt, werden von den 10 PerformerInnen gesprochen und tänzerisch interpretiert. Die Solo-, Duo-, Kleingruppen- und Ensembleszenen folgen rasch aufeinander, lassen dem Publikum keine Zeit, sich die Fragen zu stellen, die ein Performer anfangs formuliert hatte, nämlich ob wirklich über das gesprochen werden darf, was auf der Bühne Gestalt annimmt und ob es politischer Unkorrektheit und Rassismus Vorschub leisten könnte.
Die einzelnen Szenen entwickeln sich in unterschiedlichen Tempi, rasant und dramatisch oder poetisch und getragen. Die Sprache reicht vom feinsten Oxford English über verschiedene Dialekte bis zu den verfremdenden Akzenten der ImmigrantInnen.
Das Gesehene und Gehörte erweckt den Eindruck einer bunten Vielfalt, in der alles sich spielerisch ergänzt. Es ist wie der Traum vom lebendigen, kreativen Zusammenwirken der Kulturen, der in dieser Performance kritisch hinterfragt wird.
Die Bücherverbrennung von Salman Rushdies Satanischen Versen, der Mord an Theo van Gogh, der Skandal um die Mohammed-Karikaturen, Ehrenmorde, Zwangsehen, all das erzeugt ein Klima der Angst und der Unsicherheit, wodurch das miteinander Reden erschwert oder gar unmöglich gemacht wird.
In europäischen Ländern entstehen Parallelgesellschaften, in denen weder die Meinungsfreiheit noch die Menschenrechte respektiert werden. Die Angst vor Terrordrohungen oder auch davor, wegen Respektlosigkeit einer anderen Kultur gegenüber als rassistisch zu gelten, verhindern vielfach den Protest gegen unakzeptable Zustände.
Gegen Ende des Stücks, während eine Performerin von den Angriffen auf das Büro einer Organisation gegen Ehrenmord und Zwangsverheiratung berichtet, steht ein Mann im Publikum auf, brüllt wütend Unverständliches, schleudert etwas auf die Bühne und verlässt den Zuschauerraum.
Daraufhin herrscht einen Augenblick lang Beklemmung, auch die Performerinnen scheinen verwirrt. Die Gefahr, durch Kritik Gewalt zu provozieren, wird erschreckend spürbar.
Die Behandlung von Frauen als Menschen zweiter Klasse und die Ächtung von Homosexuellen, im Stück immer wieder angeprangert, als religiöse Vorschrift zu deklarieren, hat allerdings nicht nur in islamistischen Kreisen Tradition.
PolitikerInnen und RichterInnen die dies, wie in einigen Beispielen in der Performance anschaulich gemacht, gegen die Gesetze ihrer eigenen Länder als Besonderheiten einer anderen Kultur tolerieren, sind vielleicht einfach nicht auf der Höhe ihrer Zeit.
Gewalt im häuslichen Bereich galt in der BRD bis in die 1990er Jahre als privates Problem und wurde kaum sanktioniert, Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 strafbar, und der Paragraph 175, der homosexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, wurde erst 1993 ersatzlos gestrichen.
Mit Morddrohungen wurde auch, ganz ohne islamistisches Zutun, die europäische Frauen- und Schwulenbewegung in den 1970er und 80er Jahren terrorisiert.
So fremd, wie es den Anschein hat, sind die islamistischen Parallelgesellschaften den freiheitlich demokratisch denkenden EuropäerInnen gar nicht.
Die Performance liefert eine Fülle von Denkanstößen, reizt zu Widersprüchen und ist ein unüberhörbarer Aufruf zur Verteidigung von Menschenrechten und der Freiheit der Meinungsäußerung.
Vor allem ist sie ein grandioses Kunstwerk, eine einzigartige Verbindung von Sprache und Bewegung, vollendet dargeboten von einem exzellenten Ensemble auf der von Anna Fleischle mit eleganter Raffinesse ausgestatteten Bühne, auf der sich durch die Verschiebung einer Wand ständig neue Räume und Außenansichten eröffnen, die sich durch das Lichtdesign von Beky Stoddart immer wieder atmosphärisch verwandeln.
„Can We Talk About This?” vom DV8 Physical Theatre, Konzept und Regie Lloyd Newson war vom 27. – 29. 10. im Haus der Berliner Festspiele zu erleben.
Nächstes Ereignis im Rahmen der spielzeit’europa ist die Deutschlandpremiere von „Desdemona“, ein intimes Gespräch zwischen der Shakespeare’schen Figur und ihrer afrikanischen Amme, getextet von Toni Morrison in einer Inszenierung von Peter Sellars vom 10. – 12.11. im Haus der Berliner Festspiele.