Berlin, Deutschland (Weltexpress). Die deutsche Reaktion auf das Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Israel lässt nichts zu wünschen übrig, wenn man sich gern gruselt: erst der Eintritt ins Verfahren an der Seite Israels, jetzt die Streichung der Mittel für das UNRWA.

Die Propagandamaschine des Westens mag in Bezug auf die Ukraine ins Stottern geraten sein, in den letzten Tagen aber hat sie funktioniert wie geschmiert. Nicht nur, dass israelische Vorwürfe, es seien Mitarbeiter des UN-Hilfswerks für die Palästinenser (UNRWA) an den Geiselnahmen des 7. Oktober beteiligt, ungeprüft, ohne jeden Hinweis auf das Fehlen einer unabhängigen Bestätigung, übernommen wurden und das Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom Freitag aus den Nachrichten verdrängten; nein, seitdem hat auch eine ganze Reihe westlicher Länder die Zahlungen an das UNRWA eingestellt, immer mit Verweis auf ebendiese unbestätigten israelischen Vorwürfe.

Was schon faktisch kühn ist, denn besagte Vorwürfe beruhen auf den Aussagen von Gefangenen. Und mittlerweile muss man gar nicht mehr auf die unzähligen Berichte über Folter durch israelische Sicherheitsorgane verweisen; es gibt schließlich all die Videos mit halbnackten palästinensischen Gefangenen, bei denen man schon den Ursprung der Nachricht gesondert überprüfen muss, um sicherzugehen, nicht beim IS gelandet zu sein. Es gibt Misshandlungen und Folter inzwischen in Liveübertragung. Aber klar, diese israelischen Vorwürfe müssen sofort Konsequenzen haben.

Das klappt auch, weil kaum jemand weiß, welche zentrale Funktion das UNRWA in allen Gebieten hat, in denen palästinensische Flüchtlinge leben (das gilt auch z. B. für einige Stadtviertel in Beirut). Schulen, Krankenhäuser, große Teile der gesamten sozialen Infrastruktur werden über das UNRWA betrieben, und es ist unersetzlich für die Verteilung der humanitären Hilfe, von der etwa große Teile der Bevölkerung im Gazastreifen abhängig sind und waren. Aus ebendiesem Grund ist es meist auch der größte Arbeitgeber. Da ist nicht die Rede von ein paar Dutzend Mitarbeitern, sondern von einer Dimension, die mindestens mit der von Diakonie oder Caritas in Deutschland vergleichbar ist; Zehntausende allein im Gazastreifen.

Weshalb die Geschichte mit den ursprünglich zwölf Mitarbeitern, denen irgendeine Beteiligung am 7. Oktober vorgeworfen wird, inzwischen ja auch aufgestockt wurde: Zehn Prozent der Mitarbeiter hätten „Verbindungen zu den Terrororganisationen Hamas und Islamischer Dschihad“ (ntv). ProSieben spart sich gleich den Konjunktiv und erklärt: „Zehn Prozent der UN-Mitarbeiter in Gaza mit Hamas-Verbindungen“.

Was, wenn man sich der Tatsache bewusst ist, dass die Hamas schlicht auch die zivile Regierung im Gazastreifen stellte und Kontakte zu dieser zivilen Regierung notwendige Voraussetzung für mehr oder weniger jede nicht-private Tätigkeit sind, eigentlich gar nichts besagt; schließlich behaupten nicht einmal die Israelis, dass es um Kontakte zum militärischen Arm geht. Wobei selbst das zwar aus Sicht der Israelis, aber keinesfalls aus der Sicht des Völkerrechts ein Vergehen wäre, denn schließlich haben die Bewohner eines besetzten Gebiets das Recht auf Widerstand. Auch auf bewaffneten Widerstand.

„Schon die Attentäter des Münchner Olympia-Massakers von 1972 seien Absolventen von Schulen des UN-Hilfswerks gewesen“, wird dann noch der israelische Botschafter in Deutschland Ron Prosor wiedergegeben, und auch diese Aussage wird brav veröffentlicht. Als hätte es andere Schulen in den Flüchtlingslagern gegeben, in denen diese Täter aufgewachsen sind, und als wäre nicht ebendieser Angriff von 1972 das unmittelbare Produkt eines Elends gewesen, das Israel erzeugt hatte.

Aber das ist im Grunde nur die Dekoration um das eigentliche Ereignis, das Ziel dieses ganzen Manövers. Nein, das Ziel lässt sich wunderbar etwa am Beitrag der Tagesschau vom 28. Januar erkennen, in dem sogleich sowohl der israelische UN-Botschafter Gilad Erdan als auch der israelische Außenminister Israel Katz zu Wort kommen dürfen, während die Gegenposition nur als „Hamas sprach von“ wiedergegeben wird. Zwei Tage nach einem Urteil in Den Haag, das in epischer Breite Aussagen israelischer Politiker zitierte, die sehr nach genozidalen Absichten klingen; etwas, das das Gericht in seiner Begründung nicht hätte tun müssen, aber offenbar für nötig hielt.

Die Richter in Den Haag hatten es mit einem Vorverfahren zu tun, in dem eine explizite Aussage zu der Frage, ob es ein Genozid ist oder nicht, was Israel gerade im Gazastreifen verbricht, ein Verstoß gegen die juristischen Regeln gewesen wäre. Aber die Menge der Zitate, sowohl bezogen auf die Lage der Bevölkerung im Gazastreifen wie auch bezogen auf die Absichten der israelischen Regierung, war eine implizite Aussage, dass die südafrikanischen Argumente für überzeugend befunden wurden. Und dieses Urteil eröffnet eine Reihe von Möglichkeiten; nach einer Behandlung im UN-Sicherheitsrat auch jene eines Beschlusses der UN-Vollversammlung unter der „Uniting for Peace“-Prozedur, mit der diese den Sicherheitsrat überstimmen kann. Was nicht einer gewissen historischen Ironie entbehren würde, denn die Regelung der „Uniting for Peace“-Prozedur gehen auf die Vereinigten Staaten zurück, die damit das sowjetische Veto beim Koreakrieg umgehen wollten.

Gleichzeitig enthält das Urteil vom Freitag unter anderem die Vorgabe, sofort eine angemessene humanitäre Versorgung der Menschen im Gazastreifen sicherzustellen. Und was geschieht noch am selben Abend? Im Westen wird eine Kampagne gestartet, die sich gegen die größte für besagte Hilfe vorhandene Struktur richtet, eingeleitet mit einem entsprechenden Beschluss des US State Department bereits wenige Stunden nach dem Urteil, dem dann weitere westlichen Länder folgten. Nicht nur, dass Israels Erklärung, dieses Urteil zu missachten, ebenso wenig Aufmerksamkeit erhielt wie das Urteil selbst; nicht nur, dass versucht wird, mit diesen Vorwürfen den Blick fort von den täglichen Gräueln zu lenken, die in Gaza geschehen; nein, das, was mit diesen Beschlüssen geschieht, ist eine aktive Verwicklung all dieser westlichen Staaten in den Genozid (wobei die Bundesregierung mit ihrer Entscheidung, auch noch auf Israels Seite in das  Verfahren einzutreten, ohnehin schon große Bereitschaft dazu gezeigt hat).

Eine Handlung von wirklich beeindruckendem Zynismus. Es gibt ein Urteil, das auffordert, die humanitäre Versorgung sicherzustellen? Lasst uns doch die Strukturen zerschlagen, die dieses Urteil umsetzen könnten. Dann geht der Genozid schön weiter, aber wir können mit den Schultern zucken und erklären, wir hätten ja gewollt, aber leider, leider, war das technisch nicht umsetzbar.

Allerdings spielen nicht alle westlichen Staaten dieses zynische Spiel mit. Norwegen, Irland und Spanien haben sich dem US-Boykott nicht angeschlossen. Deutschland allerdings ist wieder einmal ganz vorne mit dabei. Und gleichzeitig erklärten das Auswärtige Amt und das Entwicklungshilfeministerium: „Die Rolle des UNRWA ist für die Grundversorgung der palästinensischen Bevölkerung lebenswichtig.“

Dabei ist die Aussage bezüglich der Mittelstreichung in sich extrem widersprüchlich: „Bis zum Ende der Aufklärung wird Deutschland in Abstimmung mit anderen Geberländern temporär keine neuen Mittel für UNRWA in Gaza bewilligen – ohnehin stehen derzeit keine neuen Zusagen an. Die humanitäre Hilfe läuft weiter. Gerade vor wenigen Tagen haben wir unsere Mittel für IKRK und UNICEF um sieben Millionen Euro aufgestockt.“

Was nun? Wenn es ohnehin keine Folgen hat, könnte man das ganze Theater auch einfach lassen; oder eben die Aussage ist falsch, weil damit zwar gewissermaßen die Bereitstellung von z. B. Nahrungsmitteln weiter läuft, aber bedauerlicherweise die laufenden Personalkosten für die Verteilung …

Oder, um es etwas deutlicher zu formulieren, sodass es vielleicht nicht Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, aber doch zumindest etwas intelligentere Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes verstehen: Alle Handlungen, die Regierungen der westlichen Staaten jetzt vornehmen, müssen vom möglichen Endergebnis des Den Haager Verfahrens aus gesehen werden. Was womöglich diese eigenartige Aussage erklärt, aber nicht vor den Folgen bewahrt.

Sollte die eine Variante zutreffen und das ganze Geschrei um das UNRWA keinerlei praktische Konsequenzen haben, sondern nur ein Versuch sein, das westliche Publikum von der Frage des Genozids abzulenken und propagandistisch aufzufrischen, müsste man immer noch die Frage stellen, inwieweit dadurch mit dazu beigetragen wird, dass Aufforderungen zum Genozid nicht geahndet werden, wozu auch Deutschland als Unterzeichner der Völkermordkonvention verpflichtet wäre. Aber auch wenn sich das Auswärtige Amt müht, diesen Eindruck zu erwecken, sehr glaubwürdig ist das nicht. Ganz zu schweigen davon, dass Deutschland wie alle anderen Unterzeichner nach der Konvention eigentlich den Genozid verhindern müsste, wofür es nicht das kleinste Anzeichen gibt.

Die andere Variante aber, die, dass damit die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung weiter beeinträchtigt wird, die sich ohnehin jetzt schon nur noch mit den schlimmsten erinnerten Belagerungen wie dem Warschauer Ghetto vergleichen lässt, nur zusätzlich mit Bomben, die ist nicht nur abscheulich, zynisch und durch nichts zu rechtfertigen; die ist auch ein aktives Verbrechen. Es nennt sich Beihilfe zum Völkermord. Und seit dem vergangenen Freitag müsste jedem, wirklich jedem, der an solchen Handlungen beteiligt ist, klar sein, dass die ganze Macht und Selbstüberhebung des Westens keine Garantie mehr dafür bietet, dass dieses Verbrechen nicht geahndet wird.

„Ein UNRWA-Sprecher erklärte, dass das Hilfswerk seine Arbeit nicht über Ende Februar hinaus fortsetzen könne, wenn die Finanzierung nicht wieder aufgenommen werde.“

Das schrieb sogar das Handelsblatt, also dürfte diese Information auch dem Auswärtigen Amt vorgelegen haben. Die Washington Post, der CIA liebstes Blatt, die zusammen mit der New York Times diese Erzählung vorantrieb, zitiert zumindest noch die nächsten Sätze von URNWA-Sprecherin Juliette Touma: „Diese Einschnitte werden sich massiv auf die Arbeit auswirken. (…) Der Zeitpunkt ist wirklich sehr kritisch, weil die Gefahr einer Hungersnot droht und die humanitäre Bedürftigkeit zunimmt, weil mehr und mehr Menschen vertrieben werden.“

Das UNRWA sei der größte Verteiler von Nahrungsmitteln im Gazastreifen und eine der wenigen noch verbliebenen Organisationen, die medizinische Hilfe leisten. Sollte die UN-Agentur ihre Arbeit im Gazastreifen einstellen müssen, gäbe es keine andere humanitäre Organisation, die imstande wäre, an ihre Stelle zu treten.

Im Auswärtigen Amt zumindest müsste klar sein, dass es am Ende nichts zu besagen hat, wenn die gesamte deutsche Konzernpresse einstimmt und einen Stapel vom israelischen Geheimdienst unter welchen Umständen auch immer produzierter „Erkenntnisse“ als Begründung akzeptiert; wer an diesem Beschluss beteiligt war, könnte Gefahr laufen, seine Reisetätigkeit in nicht allzu ferner Zukunft auf jene Länder beschränken zu müssen, die blind hinter den USA und Israel stehen. Denn die Streichung der Zuschüsse an das UNRWA verhindert aktiv die Befolgung der Anweisung des IGH und kann durchaus als Beihilfe zum Völkermord gewertet werden, sollte das Gericht letztlich auf diesen erkennen.

Es ist nicht Baerbock, die sich da Sorgen machen sollte, sondern die ihr unterstehenden Beamten, die womöglich gerne weiter dort tätig wären, wenn die oberste Trampolinspringerin bereits eine Randnotiz der Geschichte geworden ist. Dass der Westen sich für besonders toll hält, interessiert den Rest der Welt zunehmend weniger; aber ob er bereit ist, irgendeinem Vertreter dieses wahnhaften Haufens noch die Hand zu reichen oder gar, ihn als Gesprächspartner zu akzeptieren, das hängt durchaus mit davon ab, wie sich Deutschland im Umgang mit dem Genozid im Gazastreifen verhält. Und wer immer an dieser Beihilfe beteiligt war, könnte zumindest dauerhaft in vielen Ländern auf diesem Planeten zur unerwünschten Person werden; das klare Ende einer diplomatischen Karriere. Aber das ist vermutlich ein Opfer, das man gerne bringt, wenn nur Israel bei seinem Völkermord nicht gestört wird.

Anmerkungen:

Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn wurde am 30.1.2024 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.

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