Fotografierte Poesie – Marianne Breslauer (1909-2001) in der Berlinischen Galerie

Warten auf den richtigen Augenblick: ein unbeobachteter Moment eines (noch) schwerelos anmutenden Berliner Sommers. Fotografie: Marianne Breslauer, Sacrow, 1934

Als 1979 der Galeristin Marianne Feilchenfeldt von ihren beiden Söhnen eine schmale Publikation ihrer Bilder geschenkt wird, beginnt ihre Wiederentdeckung als Fotografin Marianne Breslauer. In der aufstrebenden Zwischenkriegszeit schuf sie zwischen 1927 und 1936 ein kleines aber spannendes fotografisches Werk, für welches man ihr, zwei Jahre vor ihrem Tod, den Hannah-Höch-Preis verlieh, den sie, die sich ihr Leben lang als Berlinerin sah, nicht ablehnen wollte, „besonders, weil es eine Berliner Auszeichnung war.“

Die 1909 geborene Marianne Breslauer stammt aus dem heute schmerzlich raren Berliner Großbürgertum. Früh beginnt ihre Leidenschaft für die Kunst. Die Schule schien sie aber zu langweilen, und obwohl ihre Mutter darauf drängte, dass sie Abitur macht, verlässt sie diese mit 16 Jahren. Sie reist durch Italien um „sich ein Bild nach dem anderen anzuschauen“. Sensibilisiert durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs bestanden die Eltern darauf, dass ihre Tochter einen ordentlichen Beruf erlernt, von dem sie sich auch selbst ernähren kann. Als sie im Herbst 1925 eine Ausstellung der erfolgreichen Gesellschaftsfotografin Frieda Riess (1890-1955) sieht, reift ihr Entschluss Fotografin zu werden.

Ihr in nur neun Jahren geschaffenes Werk rangiert zwischen der damals radikalen Fotografie des „Neuen Sehens“, mit ihren gewagten Blickwinkeln, verblüffenden Perspektiven und Verkürzungen, der „Street Photography“ und elegischen Aufnahmen. Meist entstehen nur ein, selten zwei Bilder eines Motivs. Breslauers Technik ist es, solange zu warten, bis genau das zu sehen ist, was sie fotografieren möchte, und dann das Bild zu machen. Eine Vorgehensweise die Geduld, genaue Beobachtung und die Fähigkeit zur Antizipation voraussetzt. Ihre Negative füllen meist das ganze Bild aus. Neben einem ausgeprägtem visuellen Gedächtnis und einem sicheren Kompositionsgefühl, muss sie den perfekten Blick besessen haben.

1927 geht Marianne Breslauer an die Photographische Lehranstalt des Lette-Vereins, der 1866 zunächst als „Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts“ gegründet wurde und noch heute existiert. Im Lette-Haus erhielt Breslauer eine grundsolide Fotografenlehre, die sie 1929 mit der Gesellenprüfung der Berliner Handwerkskammer abschloss. Ihre Abschlussarbeit zum Thema Porträt, die in der Ausstellung zu sehen ist, zeugt von ihrer frühen Reife.

Im Frühling 1929 ging Breslauer für ein halbes Jahr nach Paris, dem damaligen Mekka der Künste. Ihre Mutter hatte den Kontakt zu Man Ray hergestellt, bei dem sie in die Lehre gehen soll. Dieser lässt die junge selbstbewusste Frau zwar sein Fotoatelier benutzen, hält sie aber dazu an, eigene Wege zu gehen, wie man in den Memoiren Breslauers lesen kann:

„Was ich bei ihm wollte, war ihm allerdings nicht recht klar. Ich legte ihm einige Aufnahmen vor, er sah sie sich aufmerksam an und sagte, ich könne doch eigentlich schon alles. Was er mir denn da noch beibringen solle? Besser wäre, ich würde einfach alles so weiter machen, wie ich es für richtig hielte, ich hätte meine eigene Art des Photographierens ja schon in mir.“

Wie André Kertész (1894-1985), Germaine Krull (1897-1985) oder Brassaï (1899-1984) interessiert sie sich für die unbeachteten Momente des Alltags: „Interessiert hat mich nur die Realität, und zwar die unwichtige, die übersehene, von der großen Masse unbeachtete Realität.“ Sie ist stark beeindruckt von den Impressionisten und übernimmt die Bildausschnitte Edgar Degas, der, wie sie in einem späten Interview sagt, „ja auch gnadenlos Figuren abgeschnitten“ hat. In Paris entstehen poetische Bilder von Schaustellern, Clochards oder dem Jardin du Luxembourg. Sie fotografiert unter anderem für die Frankfurter Zeitung, die Frankfurter Illustrierte, die Zeitschriften „Weltspiegel“, „die neue linie“ sowie „Die Dame“, und porträtiert Oskar Kokoschka und Heinrich Wölfflin. Da das Geld noch nicht zum Leben reicht, sucht sie eine feste Anstellung und tritt für zwei Jahre in das Fotoatelier des Ullstein-Verlags ein.

1931 bricht sie zu einer zweimonatigen Reise nach Jerusalem auf, die sie in der Manier des „Neuen Sehens“ fotografisch festhält: Es finden sich steile Perspektiven und der Blick einer entfesselten Kamera. Die Bilder, die sie 1932 während einer wichtigen Auktion in Paris macht, haben in ihrer Unmittelbarkeit etwas von „Street Photography“, ohne jedoch reißerisch zu wirken. 1933 bricht sie mit ihrer Freundin, der lesbischen schweizerischen Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach nach Spanien auf. Die eindrücklichen Bilder dieser Reise können bei der Rückkehr im „gleichgeschalteten“ Deutschland nicht mehr veröffentlicht werden. Zwar werden ihre Fotografien noch in der Royal Photographic Society in London, und am „XXIX Salon International d’Art Photographique“ in Paris ausgestellt, Breslauer verliert aber ihren „Eifer und Enthusiasmus [”¦], denn publizieren konnte bzw. durfte ich ja nicht mehr.“ So wurde etwa der konzeptuelle Ansatz, ihre „Freundinnen im Alter von jeweils 10 Jahren zu photographieren“ nicht weiter verfolgt.

Breslauer hatte eine unbeschränkte, kosmopolitische Sicht, interessierte sich für fremde Kulturen und gehörte zu dem Typus der „Neuen Frau“: jung, selbstbewusst, finanziell sorgenfrei, mit Kurzhaarschnitt und auf der Suche nach Unabhängigkeit. An einem ungezwungenen Sommertag 1934 entsteht im Garten der Kunsthistorikerin Grete Ring in Sacrow eine Serie von Bildern der Freundinnen Breslauers (unsere Abbildung). Diese verwischt hier die Grenzen zwischen klassischem Porträt, Modeaufnahmen und filmischer Inszenierung und scheint den 1990er Jahren merkwürdig nahe.

1936 emigriert sie zusammen mit ihrem Mann Walter Feilchenfeldt nach Amsterdam, wo ein paar letzte, stille, poetische Ansichten entstehen. 1939 folgt die Übersiedlung in die Schweiz, wo sie als Marianne Feilchenfeldt einer der ersten großen Galeristinnen werden wird, und so weiterhin ihrer Leidenschaft zur Kunst treu bleibt. Von der Bedeutung ihrer eigenen Bilder muss sie etwas geahnt haben, rettet sie doch Abzüge und Negative durch die ganze Emigration.

Die Marianne-Breslauer-Retrospektive mit etwa 130 Werken wurde vorher in der Fotostiftung Schweiz, Winterthur, gezeigt. Um die große Bedeutung von Frauen in diesem neuen Medium der Moderne anschaulich zu machen, aber auch um Ähnlichkeiten und Unterschiede zu anderen Fotografinnen ihrer Zeit zu zeigen, wird die Ausstellung mit Werken weiterer Fotografinnen aus der eigenen Sammlung ergänzt, unter ihnen Lucia Moholy (1894-1989), Lotte Jacobi (1896-1990), Marianne Brandt (1893-1983), Marta Astfalck-Vietz (1901-1994) und Yva (1900-1942).

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Ausstellung: „Marianne Breslauer. Unbeachtete Momente – Fotografien 1927-1936“ bis zum 6. September 2010 im Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Berlinische Galerie, Berlin.

Katalog: Marianne Breslauer. Fotografien 1927-1936, hrsg. von Kathrin Beer und Christina Feilchenfeldt, Nimbus. Kunst und Bücher, Wäldenswil 2010, 216 S., 160 Abb. im Duoton, ISBN 978-3-940208-13-2, 38,00 €

Besonders hervorhebenswert scheint mir die Bildqualität der Abbildungen im Katalog. Ob dies daran liegt, dass der Verlag, der den Katalog publiziert hat, sich in Teilhaberschaft des Sohnes der Künstlerin befindet?

Literatur: Marianne Feilchenfeldt Breslauer: Bilder meines Lebens. Erinnerungen. Nimbus. Kunst und Bücher, Wäldenswil 2009, 224 S., 40 Abb., ISBN 978-3-907142-03-5, 42,00 CHF, 26,00 €

Zu den Memoiren, aus denen der größte Teil der Zitate stammt, erfolgen noch eigene Besprechungen.

Internet: www.berlinischegalerie.de

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