Europa nach dem Brexit

Ein eindrucksvoller Hinweis auf die City of London. Quelle: Pixabay, Foto: peter verhelst

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Am 31. Januar 2020 ist Grossbritannien aus der Europäischen Union ausgetreten. Die EU hat damit das erste Mal in ihrer Geschichte und der ihrer Vorgängerorganisationen ein Mitgliedsland verloren. Die Urteile hierüber fallen sehr unterschiedlich aus. Und in der Tat kommt es auch auf den Blickwinkel an, ob man dieses Ereignis nun so oder anders bewertet.

Kindheitserinnerungen … und spätere Lehren

Diejenigen Leser, die in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren in einem der damaligen sechs EWG-Staaten (Frankreich, Italien, Deutschland, Belgien, Niederlande, Luxemburg) aufgewachsen sind, werden sich vielleicht noch an die mehrmals im Jahr am Samstagnachmittag übertragenen Eurovisionssendungen erinnern können, die live miterleben liessen, wie junge Leute aus diesen sechs Ländern zu einem sportlichen und spielerischen Wettkampf – ohne allzu viel Ernst dabei und zum Vergnügen der Zuschauer vor Ort und vor den Bildschirmen – gegeneinander antraten. Der Verfasser dieser Zeilen war damals ein Kind und hat diese Sendungen gerne gesehen. Für ihn war die EWG, waren die Versuche der europäischen Einigung ein Projekt der Völkerverständigung, und er hat es als Kind sehr begrüsst, dass es nach zwei furchtbaren Weltkriegen – auch davon hatte er 1964, 25 Jahre nach Ausbruch des Zweiten und 50 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, einiges im Fernsehen mitbekommen – ein friedliches Miteinander in Europa gab. Krieg war etwas Furchtbares, das wusste er als Kind. Und die EWG war für ihn selbstverständlich ein Friedensprojekt. Erst sehr viel später erfuhr er, dass die Motive für die Gründung der EWG, wie schon zuvor für die Montanunion Anfang der fünfziger Jahre, auch und seitens der verantwortlichen Politiker vor allem machtpolitische im tobenden Kalten Krieg waren – ganz wesentlich von ausserhalb Europas angestossen, nämlich von der US-Politik. Ein Lehrstück für die sehr verschiedenen Ebenen politischer Entscheidungen. Etwas zugespitzt: der Unterschied von Schein und Sein.

Schein und Sein

Beim nun vollzogenen Brexit ist dies sehr wahrscheinlich nicht anders. Viele Bürgerinnen und Bürger Grossbritanniens und auch des Kontinents erhoffen sich vom Brexit mehr Freiheit und Demokratie für die Briten, aber auch ein Umdenken in der EU selbst: Vielleicht gibt es künftig auch in der EU mehr Freiheit und Demokratie für die verbliebenen Mitgliedsstaaten.

Sehr realistisch ist wohl beides kurzfristig nicht.

Die «City of London» und der Brexit

Schon die britische Brexit-Kampagne vor der Volksabstimmung im Juni 2016 liess Zweifel daran aufkommen, ob die politischen und medialen Kampagnenführer und die britischen Bürger am selben Strick zogen. Es war eine sehr bunte Mischung, die da zusammengefunden hatte. Hier mag der Hinweis auf ein Zitat aus einem Artikel der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 3. Februar 2020 genügen. Der ehemalige deutsche Diplomat und Leiter der deutschen Botschaft in London, Rudolf G. Adam, weist darin auf die Rolle der «City of London» beim Brexit hin: «Es ist ein hartnäckiges Vorurteil, der Brexit sei das Werk von Abgehängten. Die Wortführer des ‹Leave› kommen aus der City of London. Nigel Farage war zwanzig Jahre lang Rohstoffmakler, bevor er seine Berufung zur Politik entdeckte. Jacob Rees-Mogg verdient sein Geld als Anlageberater und Vermögensverwalter. Das Vermögen von Arron Banks, Mitinitiator der Leave-Bewegung und Geldgeber von Farage, wird auf über 100 Millionen Pfund geschätzt. Boris Johnson selbst war acht Jahre lang Bürgermeister von London und ist bestens in der City vernetzt. Grössen aus der City unterstützen ihn mit Spenden. Sajid Javid, der derzeitige Finanzminister, war 18 Jahre lang Banker. Finanzdienstleister profitieren vom Brexit. Ihr Hauptgeschäft liegt ohnehin jenseits von Europa. Sie entziehen sich mit dem Brexit dem wachsenden Zugriff einer EU-Finanzaufsicht. Sie haben es nicht mehr mit fremden EU-Behörden zu tun, sondern mit einer nationalen Regierung, die ihnen durch zahllose persönliche Sympathien verbunden ist und die sich hüten wird, eine Branche unter Druck zu setzen, die mehr als 20 Prozent des gesamten Steueraufkommens generiert.» Das klingt nicht unwahrscheinlich. Und sehr wahrscheinlich muss der europäische Kontinent damit rechnen, dass einflussreiche Kräfte in Grossbritannien, nicht zuletzt in besagter «City of London», auch heute noch Weltmachtträumen nachhängen – mit allen Gefahren für den Frieden, die damit verbunden sind. Mit seiner Rede in Greenwich am 3. Februar 2020 zum künftigen Verhältnis Grossbritanniens zur EU und zur Rolle seines Landes in der Welt1 hat der britische Premierminister Boris Johnson diese Träume erneut beschworen.

Noch kein Umdenken in der EU

Aber auch in der verbliebenen EU zeichnet sich noch kein Umdenken ab. Im Gegenteil, mit der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist eine Politikerin in eine zentrale Position gerückt, für die Macht-politik – von der Leyen: «Europa muss auch die Sprache der Macht lernen» – eine Selbstverständlichkeit ist. Und dabei geht es nicht nur um den fragwürdigen «European Green Deal»2, sondern auch um militärische Ambitionen, für die sie schon als deutsche Verteidigungsministerin stand. Es wurde zwar wenig beachtet, aber auch in ihrer Rede vor dem WEF in Davos am 22. Januar 2020 forderte sie eine mächtige EU: «[…] um in der Welt selbstbewusster aufzutreten, müssen wir in einigen Bereichen mehr tun, soviel steht fest. […] Wir sind der grösste Geldgeber im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, und wir investieren mehr in diesen Bereich als der Rest der Welt zusammen. Aber wir müssen uns auch stärker für die Bewältigung von Krisen während ihres Entstehens einsetzen. Dafür benötigt Europa auch ernstzunehmende militärische Kapazitäten […].»

Hinzu nehmen muss man, dass die Demokratie gegenwärtig wieder ganz offen in Frage gestellt wird.3 Und nicht zuletzt ist eine «Politisierung» von immer mehr Lebensbereichen zu beobachten – nicht im Sinne der Res publica, sondern geprägt vom Machtstreben. Nicht das friedliche und gleichberechtigte Miteinander wird gefördert und praktiziert, sondern, wie man sich am besten «durchsetzen» kann. Das Spektrum reicht vom Verhalten in Fernseh-Talkshows über die Verhaltensregeln bei Computer«spielen» bis hinein in private Zusammenschlüsse und sogar Familien. Immanuel Kantsethisches Grundprinzip, so zu handeln, «dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest» – ein zentraler Grundsatz menschenwürdiger Rechtsverhältnisse und würdiger menschlicher Beziehungen –, wird miss-achtet. Die Scherbenhaufen dürfen dann nicht überraschen.

Es könnte auch anders sein

Darf man trotzdem noch Vorschläge machen? Aber sicher! – Auch dann, wenn ihre Verwirklichung derzeit noch in weiter Ferne scheint.

In der sich abzeichnenden neuen multipolaren Welt muss Europa, muss auch EU-Europa, einen neuen Platz finden. Selbst die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat dies in Davos beim WEF vermerkt. Ohne Grossbritannien, das nach wie vor Weltmachtambitionen hat, sind die Chancen für die verbliebenen EU-Staaten grösser geworden. Die Bande der EU könnten hier eine positive Kraft entfalten, in dem Sinne, dass man sich auf dem Kontinent nicht noch einmal wie die Jahrhunderte zuvor gegeneinander ausspielen lässt. Auch nicht gegen ein europäisches Land im Osten, nämlich Russland.

Machtpolitische Neutralität …

Europa könnte – mit Armeen der Mitgliedsstaaten, die in der Lage sind, ihr Land im Falle eines Angriffes zu verteidigen, aber nicht mit einer «EU-Armee» für weltweite Kriegseinsätze – den Weg machtpolitischer Neutralität anstreben, das heisst, sich nicht weiter einzumischen ins weltpolitische Gerangel zwischen den heute grossen Mächten USA, Russland und China sowie dem mit erneuerten Ambitionen agierenden Grossbritannien. Sondern wohlwollende und friedensfördernde Neutralität zu entwickeln, mit dem Angebot guter Beziehungen zu allen Staaten und Mächten.

Europa war ein Hauptschlachtfeld von zwei verheerenden Weltkriegen. Einen dritten Weltkrieg wird Europa nicht überleben. Ist es nicht widersinnig, wenn europäische Politiker noch immer glauben, sie könnten den Frieden sichern, wenn sie sich einer Kriegspartei anschliessen? Eine von der US-Politik geführte Nato ist für Europa in der Tat obsolet.

… und eine andere EU

Ein solches Konzept wehrhafter Neutralität verträgt sich allerdings nicht mit der bestehenden Struktur der EU; denn diese behindert das freie und demokratische Leben in ihren Mitgliedsstaaten erheblich. Es besteht – 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – tatsächlich kein Bedarf mehr, irgend-ein europäisches Land ans Gängelband zu nehmen. Europa als Miteinander freier und demokratischer Rechtsstaaten, eine konkrete Verwirklichung der Idee eines «Europas der Vaterländer», wäre tatsächlich zukunftsweisend. Europa nach dem Brexit könnte dann aufatmen.

Anmerkungen:

(1) Englisches Original: blogs.spectator.co.uk/2020/02/boris-johnson-britain-must-become-the-superman-of-global-free-trade/; deutsche Übersetzung:www.achgut.com/artikel/just_for_the_record_boris_johnsons_rede_im_deutschen_wortlaut

(2) Vgl. Zeit-Fragen Nr. 26/27 vom 3.12.2019 und Zeit-Fragen Nr. 29 vom 31.12.2019

(3) Hierauf hat die Neue Zürcher Zeitung erst kürzlich wieder in einem längeren Beitrag («Demokratie ist das, was wir aus ihr machen» in der Ausgabe vom 28. Januar 2020) aufmerksam gemacht.

Vorstehender Artikel von Karl-Jürgen Müller wurde am 11.2.2020 in „Zeit-Fragen“ erstveröffentlicht.

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Karl-Jürgen Müller
Karl-Jürgen Müller ist Lehrer in Deutschland. Er unterrichtet die Fächer Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde. Er lebt in der Schweizerischen Eidgenossenschaft und schätzt die direkte Demokratie und politische Kultur in der Schweiz sehr.