Darüber trösten schöne Worte von Staatsminister Bernd Neumann, Schirmherr des Orchestertages, nicht hinweg. Für ihn bildet „die traditionsreiche Orchester- und Ensemblelandschaft“ das „Rückgrat der Musikkultur in Deutschland“. Fakt ist: Die Zahl der Orchester sank seit 1990 von 166 auf 133. Stellenstreichungen bei den verbliebenen Orchestern haben dazu geführt, dass 2009 erstmals die Zahl der festangestellten Orchestermusiker unter die magische Grenze von 10 000 gesunken ist. Seit 1971 waren die Orchestermusiker, die im wesentlichen aus öffentlichen Mitteln bezahlt werden, durch eine Klausel im Orchestertarifvertrag leidlich abgesichert, wonach ihre Tarife um den gleichen Prozentsatz steigen wie im Öffentlichen Dienst (sofern die Gewerkschaften eine Tariferhöhung durchsetzen können). Nach jahrelangen Kämpfen konnte die Klausel im Orchestertarifvertrag 2009 wieder festgeschrieben werden. Der Preis hierfür sind Kürzungen beim Urlaubs- und Weihnachtsgeld der Musiker.
Herrscht nun Frieden? Zum Tarifvertrag referierte Rolf Bolwin, Direktor des Deutschen Bühnenvereins – des Arbeitgeberverbands. Im Unterschied zu früheren Orchestertagen war die Gewerkschaft Deutsche Orchestervereinigung (DOV) nicht geladen. Bolwin zeigte sich dann auch »enttäuscht« vom Tarifpartner. Im Jahre 2010 könnten die Tarife wie im Öffentlichen Dienst der Länder und Kommunen um 1,2 Prozent erhöht werden, sie müssten jedoch bei den Staatsorchestern um 0,3 Prozent abgeschmolzen werden, weil die bereits zu viel bekommen hätten. Die DOV wollte aber nur einer Reduzierung um 0,2 Prozent zustimmen, für Bolwin ist das nicht mehr als reine Prinzipienreiterei. Noch unverständlicher sei eine Klage der DOV beim Arbeitsgericht Köln, wonach die Anpassungsklausel anerkannt werden solle, die ja ohnehin im Tarifvertrag steht. Er werde in diesem Streit bis zum Bundesarbeitsbericht gehen.
Auf Nachfrage bestätigt der Unterhändler der DOV, Andreas Masopust, es ginge tatsächlich ums Prinzip, um nicht weniger und nicht mehr, als dass der neue Tarifvertrag 1:1 umgesetzt werde. Das heißt, die DOV fordert 1,2 Prozent ohne Abschläge für 2010 sowie die Anpassung für 2011, für das der Bühnenverein kein Angebot gemacht habe. „Wir können keine neuen Rechenspiele akzeptieren, wo von 1,2 nur 0,9 Prozent weitergegeben werden.“
Auch am Schauplatz Berlin prallen die Standpunkte aufeinander. Berlin ist 2003 aus dem Orchester-Flächentarif ausgetreten. Gehaltserhöhungen gab es seitdem nicht mehr. Infolge dessen liegen die Gehälter um 12 Prozent unter denen des neuen Flächentarifs. Berliner Senat und Bühnenverein bieten nun eine Erhöhung um 4,46 Prozent plus 65 Euro monatlich an, nach ihrer Rechnung insgesamt sieben Prozent. Die Klausel über honorarfreie gegenseitige Aushilfen aber soll übernommen werden. Das lehnen Musiker der Berliner Opernorchester und des Konzerthauses ab, weil ein Rückstand zum Tarif bleibt. Sie streiken punktuell. Rolf Bolwin findet es befremdlich, dass Lohnerhöhungen von Bedingungen abhängig gemacht werden. Die „in raffinierter Weise“ geführten Streiks seien nicht zu verstehen. Um welche Summen es eigentlich geht, konnte Bolwin auf Nachfrage aber nicht sagen.
Für Masopust ist dagegen der Hauptzweck des Arbeitskampfes die vollständige Inkraftsetzung des Tarifvertrages für Berlin. Der Senat fordere die Festschreibung seines Angebots bis 2014, wodurch der Flächentarif erst 2017 erreicht werde. Auch seien die Einmalzahlungen im Öffentlichen Dienst falsch berechnet worden. „Wir sind keine Traumtänzer. Wir können uns einen Stufenplan vorstellen, wie wir uns dem Flächentarif annähern. Vom Senat erwarten wir ein Signal für einen möglichen Kompromiss. Der Tarifvertrag ist ein Geben und Nehmen“. Senat und Bühnenverein sollten sich daran erinnern, dass die Berliner Opernorchester 2004 einen Gehaltsverzicht angeboten haben, um die Berliner Symphoniker zu retten. „Wir boten einen Kompromiss an. Der Senat hat ihn ausgeschlagen“.
Aber geht es allein ums Geld? Den Gehaltsrückstand betrachten die Orchestervorstände aller Berliner Orchester, auch jener, denen es „besser geht“, mit Sorge. Wenn Spitzenkräfte, wie Solo-Oboe und Solo-Horn, in München, Hamburg und Köln mindestens 1000 Euro mehr verdienen und gute junge Musiker sich bevorzugt dort bewerben, ist auf Dauer das künstlerische Niveau gefährdet. Die Chefdirigenten Lothar Zagrosek und Ingo Metzmacher haben das wiederholt beklagt und wollen das nicht länger mitmachen. Die Entscheidungsträger, die ständig Berlin als Kunstmetropole preisen, nehmen jedoch solche Argumente bislang nicht zur Kenntnis. Bemerkenswerterweise war „Krisenkommunikation“ ein Schlagwort des Deutschen Orchestertages.
Erstveröffentlichung in jungeWelt vom 11.11.10