Er hatte nur die Tür leise zugemacht – Der verstörend versöhnliche Kriegsroman von Milenko Goranović

Milenko Goranović: Vom Winseln der Hunde. © Weiser Verlag

Berlin, Deutschland (Weltexpress). „Es war ein schöner Herbsttag, voller Licht, mild, klar, die Straße war voller Menschen, an solchen Tagen muss man eben raus, alles war gut. Noch. Aber dann hörte ich zufällig im Vorbeigehen, jemand lachte auf, eine unbekannte Frau, doch nicht leise, nicht nur für sich, sondern wie es Seka immer tat, so laut, so herzlich, so ansteckend, aus dem Bauch, aus der Seele, und alle lachten dann auch mit, die ganze Straße, nur ich nicht, ich wusste sofort, etwas ist geschehen, ich werde meine Schwester Seka nie wieder sehen.“

Im ersten Kapitel, noch auf der ersten Seite des 230 Seiten starken Romans verrät Milenko Goranović mit diesen Zeilen alles. Sowohl, dass eine der Hauptfiguren, Seka, sterben wird, als auch den schwarzen Humor, die Poetik und Melodie dieses Buches. Mystik des Balkans, scheinbar aufgedröselt an der Geschichte einer Mundharmonika, die durch ein Jahrhundert wandert. Dennoch ist „Vom Winseln der Hunde“ ein kompaktes balkaneskes Epos, das auf weniger Seiten weiter schwingt als Miljenko Jergovićs „Walnusshaus“, sich in deutsche Lebensläufe eingräbt und immer wieder zurückkehrt – nach Sarajevo. Milenko Goranović, geboren 1955, war während des bosnischen Bürgerkrieges künstlerischer Leiter des Kammertheaters 55 in Sarajevo. Verarbeitet im „Winseln der Hunde“ wahre Kriegsbegebenheiten, von denen er einige in der belagerten Stadt selbst erlebt hat.

Der Roman springt durch die Jahrzehnte, die Schwester des Ich-Erzählers liegt 1991 mit einer unheilbaren Blutkrankheit im Krankenhaus in Sarajevo und muss schreiben, ist verliebt in Kurt, den wir bald kennenlernen. Kurt als Kind in Ludwigsburg, die schöne, schweigende Mutter und eine Blechdose auf der Kredenz, ein Mann im blauen Anzug. Kurt wird Filmemacher, trifft auf Seka und sucht mit ihr nach einer Mundharmonika und einem Partisan.

Weiterhin treten auf: Tešo, der Vater Sekas und des Ich-Erzählers. „Unser Vater Tešo war eine traurige Existenz. Er hat sein ganzes Leben auf der Suche nach einem Foto vertrödelt, das es nicht gab. Es ging um eine Rente von 63 Dinare, die man unserem Vater verweigerte, weil er nicht beweisen konnte, dass er auf der Seite der Partisanen gestanden hatte; und beweisen konnte er das nicht, weil er mit allen, die ihm hätten helfen können, verkracht war.“ Das Foto wird von Seka in Wien gefunden und die Geschichte erzählt: im Norden Bosniens pflanzt der zwölfjährige Tešo, eine Partisanenmütze tragend, Mitte Oktober 1944 die rote Fahne mit Hammer und Sichel auf das Dach der soeben befreiten Schule. Das nächste Foto, die nächsten Protagonisten: Admira und Boško, 19. Mai 1993. „Es war 17 Uhr und sieben Minuten, als die Schüsse kamen. Boško war sofort tot. Admira war nur verwundet. Ein paar Sekunden stand sie noch.“ Sima und Enes, ein Giftgasangriff auf das irakische Dorf Halabdscha, Ilonka in Szeged und Wien, das Joschkarliesl in Berlin, Milica und Sule in Sarajevo…

Milenko Goranović erzählt in filmischen Sentenzen von Sekas und Kurts Suche nach dem Partisanen, der Mundharmonika. Alle gefundenen Fragmente der Geschichte sind nur einige Seiten lang, Schlaglichter in jeweils andere Leben. Andere Zeiten. Kurz bevor dem geforderten Leser der Faden reißt, verbinden sich die Pfade der europäischen Wanderungen auf geheimnisvolle Weise. Stets ausgelöst durch Kriege, Verlust der Heimat, aufeinanderfolgend in unseliger Gesetzmäßigkeit. Der Grausamkeit des Menschseins. Sie schlachten einander, foltern und schießen auf ihresgleichen. Kein Erbarmen? Auch dafür hat der Autor einen Dreh gefunden, lässt Gnade walten, die sich fortpflanzt und hell aufblitzt, gegen das dumpfe Schwarz des sinnlosen Todes. Liebe und Verständnis für seine Figuren durchdringen sein literarisches Debüt, welches auf Weiteres hoffen lässt.
Sarajevo, Oktober 1993. Das Pärchen Admira und Boško ist bereits ein halbes Jahr tot, auf der Flucht aus der Stadt über die Brücke erschossen, der Ich-Erzähler und Kurt rennen durch die Straßen, unter Beschuss. Ein verwundeter Hund liegt blutend hinter einer Sperre, ein Bein weggerissen. „Neben ihm ein anderer Streuner, der nicht verwundet war, der nicht blutete. Der weglaufen könnte; doch der lief nicht, der blieb bei dem Verwundeten und winselte leise, als ob er friert.“

Goranović selbst ist dem Krieg entkommen, seit 1994 lebt er in Deutschland und arbeitet als Autor, Übersetzer, Dramaturg und Schauspieler. „Vom Winseln der Hunde“ ist ein Roman der Kriege, dem Leser bleibt dennoch das sanfte Türschließen einer Figur im Herzen. Es ist der Großvater von Amira, der im heutigen Sarajevo lebt und nichts mehr wissen will, von den Toten, der Mundharmonika und einem Mädchen, welches er vor einem halben Jahrhundert gerettet hat. Der Vorhang fällt und uns bleibt das Staunen über die versöhnende Kraft der Sprache.

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Lesung und Musik: Freitag 9. Juni 2017, 19.00 Uhr, Berlin: Klak in der Fabrik, Paul-Lincke-Ufer 44a, Musik: Dragan Mitrović, Akkordeon, Moderation: Jörg Becken

Milenko Goranović, Vom Winseln der Hunde, Roman, 230 Seiten, Wieser Verlag Klagenfurt/Celovec, 2016, ISBN: 978-3-99029-198-6, Preis: 21 EUR (D)

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