Es ist nicht die Angst vor dem Wahnsinn, die uns zwingen könnte, die Fahne der Phantasie auf Halbmast zu setzen – das geniale Debüt des Marc Schweska

Diese Zeilen könnten als Motto des Romans herhalten. Der Autor Marc Schweska, Alter Ego eines Schelms beachtlichen Ausmaßes, hat es vorgezogen, seine Motive dreifach verschachtelt auf den ersten Seiten dieser nicht nur bibliophilen Kostbarkeit unterzubringen. Der Roman heißt „Zur letzten Instanz“ – womit sowohl eine (angeblich die älteste) Berliner Kneipe nahe der Leipziger Straße und des ehemaligen HDJT, als auch die letzte Instanz in Form des gedruckten, daher fixierten Wortes bezeichnet ist, ergänzt durch die kursive Widmung „allen Lötern“ eine Seite weiter, was sowohl die lötenden Jugendlichen der östlichen Landesteile vor 89 als auch die sich ohne Zeitbeschränkung gern komatisch betrinkende Szene gemeint haben könnte und wird motivierend abgerundet durch die Botschaft auf dem dritten Vorsatzblatt: „Eulenspiegel ward dreimal getauft – Ein kurzweilig Lesen von Till Eulenspiegel“.

War dieser Satz unter Umständen schwer zu verstehen? Tja, Pech gehabt, die Rezensentin ist durch die Einblicke in das Schweska-Universum mutig geworden und belässt im Unklaren, was (z)erklärt werden könnte. Endlich haben wir einen Roman, der von unten kommt, der im Eingemachten schwadroniert und phantasiert, ohne alles und jedes aufzuklären. Wer nicht weiß, wer die anderen sind oder Rosa Extra, wo sich das Cafe ´ Mosaik befand oder das Ahornblatt, wird es hier auch nicht erfahren. (Es ist übrigens einiges durch den Besuch einer gewissen website herauszubekommen, auch manch herrliche visuelle Erweiterung zum Roman. http://www.schweska.de/archiv/instanz/fragebogen.html)

Dieses Buch ist eines, das man sofort beziehen möchte, darin wohnen, sich suhlen, Kämmerchen für Kämmerchen erobern, durch die Säle schlittern, mal das Dach, mal den Keller besteigen, durchklettern”¦ Aus dem Fenster schauen und mit den Augen des Protagonisten Lem den Häusern ringsum zusehen, wie sie bezogen und wieder entvölkert werden, von Berlin-Zuzüglern und Ausreisenden später”¦ den Prenzlauer Berg noch einmal nackt sehen, grau und wolkenverhangen. Der Roman erzeugt Phantomschmerzen, ist aus den Eingeweiden einer kollektiven Erinnerung herauf geschrieben. Empor gequollen. Es gärt munter in alle Richtungen, bildet Auswüchse und Nebenstränge. Die dunkel monotone Stimme von Rex Joswig fliegt über den Seiten, der in erstaunlicher Kongruenz der Ereignisse erst vor einigen Wochen eine neue Sendung des Grenzpunkt Null zu Lautréamonts Gesängen des Maldoror über Äther und Netz schickte. „Alter Ozean“, hieß es dort, „ich grüße dich“ und „Wir grüßen dich, alter Ozean“ bei Schweska.

Doch kommen wir zum Hauptmotiv des Romans, der Liebesgeschichte um Lem und Ira Ende der Achtziger Jahre, die einige Monate lang betrachtet wird. Die Wege beider driften auseinander, ohne dass die Liebe erlahmt. Freunde gehen, flüchten, tagträumen. Lem beleuchtet Bühnen und versucht, etwas Licht in sein eigenes Leben zu bringen. Um diesen sehr dicht geformten Erzählstrang ranken sich Kindheitserinnerungen Lems, Exkursionen mit Gleichgesinnten in Parks, Keller und Schutthalden der Stadt sowie Ausflüge in die Hirne einiger lebender wie verblichener Löter und Denker, Dichter/innen und Stasi-Offiziere, Väter und Vorväter, Lehrlinge und Lehrmeister. Das Konstrukt: funktioniert. Die Sprache: amüsant, authentisch und apart. Poetisch und üppig. Die zahlreich eingeflochtenen Zitate wirken nicht aufgesetzt, sondern erweiternd im schönsten Sinne. Ein Buch voller Aha-Effekte und Anregungen. Voll aberwitziger Einfälle und Überfälle, Ausstiege und Untergründigkeiten, wie die Eroberung des Bunkers im Friedrichshain. Grandios! „Die letzte Instanz“ wirkt nicht wie ein Erstling, vielleicht hat der 1967 in Berlin geborene schreibende Ex-Elektroniker schon Jahr(zehnt)e lang herumgelötet an diesem Werk. Manch langatmige Nebenbeschreibung des Werden und Vergehens eines psychologisierenden Kybernetikers darf allein deshalb nicht quergelesen werden, weil mittendrin die Beschreibung eines Punkkonzertes auftauchen könnte oder Lem selbst singt. Hier wird eine Jugend heraufbeschworen, die sich rieb, die knisterte und prasselte wie ein permanentes Wetterleuchten – und überdies genau so wild gesetzt und in Buchform gepresst wurde. Dem Verlag sei gedankt für die verspielte wie aberwitzige Druckfassung dieses genialen Debüts, das in keiner verschämten Schelmenbibliothek fehlen sollte!

Zur letztlichen Verwirrung sei ein recht klares Zitat des Meisters geliefert und der flammende Aufruf zum Besuch seiner Lesung in einer neuen letzten Instanz, der Staatsgalerie Prenzlauer Berg am 22. 9.!!

Alles, was den Realismus ablehnte, wurde von uns bejaht. Diese Realität, die darauf aus war, uns ein passives Vertrauen in eine Art konformistischer Prahlerei auf ewig aufzuerlegen. Vielleicht war das naiv. Das Aufflammen aller möglichen Ismen war bestimmend. Expressionismus, Kubofuturismus, Anarchismus, Surrealismus. Was blieb, war Randale Flucht und Täuschung. Wir hatten unsere Lektion gelernt.“

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Lesung: Staatsgalerie Prenzlauer Berg, Donnerstag, 22. September 2011, 21 Uhr, Greifswalder Straße 218, 10405 Berlin

Marc Schweska, Zur letzten Instanz, Roman, 353 Seiten, Die Andere Bibliothek, Eichborn Verlag Frankfurt am Main, 2011, 32,- EUR

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