Eine Welt, die nach Erlösung schreit – Friedrich Hebbels „Die Nibelungen“ im Schauspiel Frankfurt

Kriemhild (Birgit Hupfeld) und Hagen Tronje (Nico Holonics) im Streit.

Friedrich Hebbel greift diese Passage in seinem deutschen Trauerspiel „Die Nibelungen“ begierig auf und macht sie zum Dreh- und Angelpunkt seiner von emotionalem Pathos durchzogenen Trilogie. Es ist die Situation, als an heiligem Ort gnadenlos darum gestritten wird, welcher der beiden Ehemänner in der sozialen Hierarchie höher einzustufen sei: Gunther der König oder Siegfried der Held.

Ein  Zweikampf mit Worten, der schließlich dazu führt, dass bei der Zurschaustellung gegenseitiger Eitelkeiten die Sicherungen durchbrennen. Und dadurch der Schwindel um die von Siegfried heimlich unterstützte Brautwerbung Brunhildes durch König Gunther auffliegt. Ein aus menschlicher Arroganz geborenes Missgeschick, wodurch die auf List und Täuschung basierende fragile Ordnung am Wormser Hofe nun vollends ins Wanken gerät.

Auch Jorinde Dröse stellt die im Werk sich anbahnende Alternativlosigkeit des Geschehens in den Mittelpunkt ihrer Frankfurter Nibelungen-Inszenierung. In dem Mark erschütternden Racheschrei Brunhilds (Constanze Becker) im Anschluss an Kriemhilds Geheimnisverrat (Verena Bukal) sieht sie den Ausgangspunkt für eine unaufhaltsame Rolltreppe abwärts. Hinunter in die von fast allen Beteiligten mitverschuldete Katastrophe, die an König Etzels Hof in gnadenloser „Nibelungentreue“ ihren  zerstörerischen Abschluss findet.

Das männliche Gegenstück zu den beiden weiblichen Hauptakteuren ist der listige und in seiner Brutalität unübertroffene Hagen Tronje (Nico Holonics). Als intellektuell überlegener Herr des Geschehens ahnt er zunächst nichts von dem Vernichtungswillen, zu dem Kriemhild nach seinem Mord an Siegfried (Lukas Rüppel) fähig ist. Erschien sie doch bis dahin als eine biedere Ehefrau, die in ihrer Naivität dem Mörder zuvor noch das Geheimnis ihres Gatten zu dessen vermeintlichem Schutz offenbarte.

Und während Kriemhild und Hagen als Erzrivalen bis zum bitteren Ende streiten um den von Siegfried in die Ehe eingebrachten Nibelungenhort, beanspruchen auf anderer Ebene Friedrich Hebbel und Richard Wagner mit der in ihren Werken erkennbaren Deutungshoheit jeweils für sich das Erbe des Nibelungenliedes. In Wagners „Ring“ endet die Handlung in der Zerstörung der bestehenden göttlichen Ordnung. Einer „Götterdämmerung“, die zugleich das Ende eines ganzen Weltzeitalters nach sich zieht.

Bei Hebbel hingegen bleibt eine Welt zurück, die nach Erlösung schreit: „Nehmt mir meine Kronen ab und schleppt die Welt auf Eurem Rücken weiter“, ruft Etzel resignierend aus (Michael Benthin). Derselbe Hunnenkönig, der noch kurz vorher bei seinen Eroberungszügen bedenkenlos unzählige Menschenleben opferte. Nun jedoch widert ihn jedes weitere Blutvergießen an, und er zeigt sich nicht mehr gewillt, „neue Bäche ins Blutmeer zu leiten“.

Mit König Etzels Worten resignierender Ratlosigkeit endet die Frankfurter Inszenierung. Dieser  gelingt es in der Tat, die fatalen Strukturen im sozialen und politischen Miteinander nachzuzeichnen, wie sie die Menschheitsgeschichte stets hervorgebracht hat. Und wie sie auch dem von der Bibel vermittelten Menschenbild entsprechen, das – besonders im Alten Testament – geprägt ist von List und Verschlagenheit, von Zorn und Unnachgiebigkeit.

Im Unterschied zur Inszenierung von Jorinde Dröse behält bei Friedrich Hebbel jedoch nicht die trostlose Sichtweise Etzels das letzte Wort. Im allerletzten Halbsatz des Trauerspiels wendet Dietrich von Bern das Blatt,  indem er die selbst für König Etzel zu schwer gewordene Last übernimmt „im Namen dessen, der am Kreuz erblich!“ Dies verleiht der auf den Leichenbergen lastenden Schuld eine  neue, ja geradezu erträgliche Dimension. Und eröffnet damit eine tröstliche Perspektive, die das christliche Abendland bei allen schuldhaften Verstrickungen stets im Glauben an den sühnenden Kreuzestod Christi bereit hielt.

Nein, leicht ist es für den Zuschauer nicht, die sich über mehr als drei Stunden erstreckende Aufführung mit ihrer Bündelung schwer erträglicher Themen durchzustehen. Kommt sie doch einem Spiegel gleich, in dem sich – bis in die Gegenwart hinein – fast jede Generation mit Erschrecken wiedererkennen kann. Doch die Inszenierung tut ihr Möglichstes, um die Einsicht in menschliche und politische Verfehlungen erträglich zu machen. Dazu dienen die immer wieder in das tragische Geschehen eingeflochtenen schauspielerischen Kabinettstückchen mit teilweise sogar humoristischem Einschlag.

Wie gleich zu Beginn, als die Männerriege des Wormser Hofes auftrumpfend und in machohafter Überheblichkeit an ihrer Mannhaftigkeit keinen Zweifel lässt. Dabei in seltener Einmütigkeit Hagen Tronje, Volker der Spielmann (Andreas Uhse) und Königsbruder Giselher (Christian Erdt). Allen voran jedoch König Gunther (Sascha Nathan), der sich auch nicht ansatzweise die körperliche Überlegenheit anderer eingestehen will. Bis Siegfried ihn auf respektlos unbefangene Art eines Besseren belehrt und – welche Schmach! – seine Ehefrau Brunhild ihn später die Hochzeitsnacht kurzerhand an einen Nagel in der Wand verbringen lässt. Eine äußerst missliche Lage, aus der ihn erst Andere am nächsten Morgen wieder befreien.

Humorvoll auch die Anekdote, als Hagen Tronje mit Krokodilstränen der naiv-ahnungslosen Kriemhild das Geheimnis der Verwundbarkeit Siegfrieds entlockt und dabei den wortgewandten Attacken seiner intellektuellen Verführung erliegt. Wird der Zuschauer bei soviel Dummheit nicht von der Inszenierung für einen kurzen Moment auf das Glatteis der Schadenfreude geführt, obwohl der tödliche Ausgang des Geschehens längst vorprogrammiert ist? Bezaubernd auch Frigga, Brunhilds Amme (Wiebke Frost), die in ihrem geschmeidigen Auftreten eine erfreuliche Alternative darstellt zu der unnachgiebigen Verbohrtheit ihrer Herrin.

Ähnlich ausdrucksstark Ute, die lebenserfahrene Mutter Kriemhilds (Chantal le Moign), die ihrer in Liebe zu Siegfried errötenden Tochter die sich abzeichnende gute Partie geradezu aufschwatzt. Oder Markgraf Rüdeger (Peter Schröder), der Kriemhild in gutem Glauben einen Eid leistet und nun hilflos miterleben muss, wie seine Gutgläubigkeit durch ihre furienhafte Racheaktion auf das Schändlichste missbraucht wird. Und immer wieder sind es die von der Inszenierung herausgearbeiteten gegenseitigen  Ehrverletzungen, die stets dazu führen, in scheinbarer Alternativlosigkeit die Wiederherstellung der eigenen Ehre mit List oder Gewalt zu betreiben.

So bleibt am Ende nur der Schrecken des kollektiven Sterbens. Verstörend demonstriert mit einer Infrarotkamera am Beispiel schmerzhaft verzerrter Gesichter (Video: Stefan Bischoff, Licht: Ellen Jäger, Bühne und Kostüme: Susanne Schuboth). Dies sogar als eine Einladung an die Außenwelt zu dem atavistischen und dennoch politisch unkorrekten Wunsch, nun auch das schnelle Ende von Bösewicht Hagen Tronje und Rächerin Kriemhild herbeizuwünschen?

Zurück bleibt ein von widersprüchlichen Gefühlen strapaziertes Publikum. Dieses jedoch bedankt sich in  ausgiebigem Premieren-Schlussapplaus für die Dichte der Darstellung und den Einfallsreichtum dieser Inszenierung, die zweifellos auch über den Frankfurter Raum hinaus Beachtung verdient.

Weitere Aufführungen: 19.9., 23.9., 27.9., 2.10., 3.10., 13.10., 26.10., 27.10.2013

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