Ein Schuhmacher mit Namen Wilhelm Voigt wurde aus dem Gefängnis entlassen, wo er wegen Betrugs einsaß. Er braucht einen Pass, um Arbeit zu bekommen, aber Verbrecher können keinen Ausweis erlangen.
Der Schuhmacher geht in einen Maskeradeladen und zieht sich die Uniform eines Hauptmanns an. Er kommandiert eine Gruppe Soldaten, die zufällig gerade die Straße entlang kommt. Diese bemerken zwar einiges Ungewöhnliche an seiner Uniform, sie wagen aber nicht, einem Offizier nicht zu gehorchen.
Der „Hauptmann“ lässt die Soldaten in die kleine Stadt Köpenick, einen Vorort von Berlin, marschieren, verhaftet den Bürgermeister und konfisziert die Stadtkasse, die voller Blanko-Pässe war. Für die Polizei ist es nicht schwierig, herauszufinden, wer die Untat begangen hat. Er ist bald danach wieder verhaftet.
Als ein Adjutant diese Nachricht dem Kaiser überbringt, hält der Hof erst einmal den Atem an. Nach einem spannenden Moment oder zweien, bricht der Kaiser in Gelächter aus. Ganz Deutschland lacht mit und mit ihm bald das übrige Europa.
Der Hauptmann von Köpenick wurde zur Legende, weil sein Streich ein Schlaglicht auf das Wesen des Regimes warf: Im militaristischen Deutschland jener Zeit – kurz vor dem Ersten Weltkrieg – bedeutete der militärische Rang Autorität, die nicht hinterfragt wurde.
Vielleicht stimmt es, dass jedes Land eine solche Episode hat, die mit einem Schlag die Hauptschwächen seines Regimes aufzeigt. In Israel war es bis letzte Woche die Affäre mit der Ramat-Gan-Lichtbirne.
Im März 1982 verkündete der Wirtschaftsminister Yaakov Meridor, ein führendes Mitglied des Likud, dass ein Wissenschaftler mit Namen Danny Berman eine Erfindung gemacht habe, die weltweit revolutionär sein werde. Mit einem einfachen chemischen Prozess sei er in der Lage, genügend Energie zu schaffen, um ganz Ramat Gan mit einer einzigen Birne zu erleuchten. Ramat Gan ist eine Schwesterstadt Tel Avivs und fast genau so groß.
Yaacov Meridor (kein Verwandter des augenblicklichen Ministers Dan Meridor) war nicht irgendwer. Er war der Kommandeur des Irgun, bevor Menachem Begin kam; und später hat er ein größeres wirtschaftliches Unternehmen in Afrika aufgebaut. Er war die Nummer Zwei als Likudführer, und es war kein Geheimnis, dass Begin ihn als seinen Erben und Nachfolger betrachtete.
Vor Meridors Verkündigung kam ein Reporter meines Nachrichtenmagazins Haolam Hazeh zu mir und erzählte mir atemlos von der wunderbaren Erfindung. Ich antwortete mit einem Wort: Unsinn. Meine Zeit als Herausgeber eines Enthüllungsmagazins hat meine Nase sensibilisiert. Ich kann falsche Geschichten von ferne riechen. Aber das ganze Land war wie aus dem Häuschen.
In den folgenden Tagen stellte sich die Erfindung als einfacher Betrug heraus. Berman, das Genie, der als früherer Luftwaffenoffizier posierte, wurde als Betrüger mit krimineller Vorgeschichte entlarvt. Meridor verlor seine politische Zukunft. Aber eine kleine Gruppe von „wahren Gläubigen“ einschließlich meines Reporters, schworen weiter, Berman sei tatsächlich ein missverstandenes Genie.
Wie konnte nur eine so völlig unsinnige Geschichte ohne irgendeine Grundlage das Interesse eines ganzen Landes erregen und allgemeine Akzeptanz gewinnen – wenigstens anfangs? Sehr einfach: es drückt eine tiefsitzende Überzeugung der israelischen Öffentlichkeit aus: dass Juden das intelligenteste Volk der Erde sei.
Übrigens ist dies eine gemeinsame Überzeugung von Juden und Antisemiten. Das berüchtigte Pamphlet „Die Protokolle der Weisen von Zion“, die eine jüdische Verschwörung zur Übernahme der Weltherrschaft enthüllten, gründet sich auf diesen Glauben.
Es gibt viele Theorien, die vorgeben, die angebliche Überlegenheit des „jüdischen Gehirns“ erklären zu können. Die einen behaupten, dass in den zweitausend Jahren der Verfolgung die Juden gezwungen waren, ihre Intelligenz zu entwickeln, um zu überleben. Eine andere Theorie lautet: im mittelalterlichen katholischen Europa wurden die intelligentesten Männer Priester oder Mönche, deren Zölibat sie hinderte, ihre Gene an Nachkommen weiterzugeben, während es in jüdischen Gemeinden üblich war, dass reiche Eltern ihre Töchter mit den hervorragendsten jungen Schriftgelehrten verheirateten.
In dieser Woche wurde die Ramat Gan-Lichtbirne von einer noch großartigeren Erfindung übertrumpft: dem Herzaufkleber.
Die Wirtschaftsbeilage von Haaretz veröffentlichte einen Knüller: eine praktisch unbekannte israelische Firma hat ein Drittel ihrer Anteile an eine Taiwanisch-Britische Gesellschaft für 370 Millionen Dollar verkauft, was bedeutete, dass sie eine Milliarde wert ist. All dies dank einer revolutionären Erfindung: ein kleiner Sticker, der auf die Brust geklebt wird, kann eine entscheidende halbe Stunde im voraus eine Herzattacke anzeigen. Der Sticker sendet über ein Handy und einen Satelliten Warnungen. Dies würde die Möglichkeit geben, unzähligen Menschen das Leben zu retten.
Am Abend erschien einer der Chefs dieser glücklichen Firma im Fernsehen und enthüllte, dass der Wundersticker noch viel mehr kann: er könnte z.B. den Blutzucker messen, ohne in den Körper zu dringen.
Meine Nase begann sofort zu zucken.
Und tatsächlich begannen die Medien einen Tag später, der Sache auf den Grund zu gehen, und enthüllten eine seltsame Sache nach der anderen. Keiner hatte bis jetzt den Wundersticker gesehen. Kein Patent war registriert worden. Kein Kardiologe oder ein anderer Experte hatte ihn geprüft. Keine wissenschaftliche Zeitschrift erwähnte dies. Und anscheinend war noch kein wissenschaftliches Experiment durchgeführt worden.
Die Taiwanisch-Britische Gesellschaft hatte keinen Vertreter nach Israel geschickt, um die Erfindung zu prüfen, für die sie angeblich eine Riesensumme gezahlt hatte. Die Verhandlungen waren alle mit E-Mails erfolgt, ohne persönlichen Kontakt. Die beteiligten Anwälte weigerten sich, das unterzeichnete Abkommen zu zeigen.
Als Reporter die ausländische Gesellschaft kontaktierten, wussten sie überhaupt nichts von der Sache. Es sieht so aus, als habe der „Erfinder“ eine PC-Domäne mit einem ähnlichen Namen registriert und so die Aktien an sich selbst verkauft.
In dieser Phase fiel das Kartenhaus in sich zusammen. Es kam heraus, dass der „Erfinder“ schon zweimal wegen Betrugs im Gefängnis saß. Aber seine Partner bestehen darauf, dass es eine ernst zu nehmende Sache sei und dass innerhalb von Tagen oder gar Stunden der geniale Erfinder alles aufdecken würde. Die Kritiker müssten dann einen Besen fressen.
Die Besen wurden nicht gefressen, und die Partner verließen einer nach dem anderen das Schiff.
Was die Affäre von einer amüsanten „Betrugsaffäre in eine bedeutende nationale Angelegenheit verwandelte, war die Bereitschaft des ganzen Landes, einen ganzen Tag lang die Geschichte als weiteren Beweis des ’jüdischen Genius’ zu akzeptieren.
Nicht weniger typisch war die Identität ihrer Helden. Nummer eins war der Erfinder selbst, der weiter protestierte, dass er gerade dieses Mal kein Betrüger sei. Nummer zwei war sein Partner, der Geschäftsmann, der ein Komplize des Betruges war oder auch nicht war. Aber die interessanten Charaktere sind die beiden anderen Protagonisten.
Nummer drei ist lange Zeit der engste Freund von Binyamin Netanyahu gewesen, besonders von seiner Frau Sarah (die jedem mit dem kindlichen Diminutiv Sara’le bekannt ist). Auf der Höhe des Skandals trat er vom Job als Generaldirektor zurück, nachdem es ihm nicht gelungen war, eine Kopie des berühmten Kontraktes zu bekommen. Vorausgesetzt, dass dieser Freund Netanyahus tatsächlich unschuldig ist, lässt sein Intelligenzgrad ernsthafte Zweifel aufkommen. Doch mag es nicht die Intelligenz sein, nach der die Netanyahufamilie ihre engen Freunde aussucht.
Dies trifft noch mehr bei Nr.4 zu: Haggai Hadas. Welch genauen Anteil er an der Sache hatte, ist nicht ganz klar. Anfangs verteidigte er die Erfindung rigoros und schien vom Kopf bis Fuß darin verwickelt zu sein; aber als die Sache aufflog, versuchte er verzweifelt, davon wegzukommen.
Warum ist dies außerhalb des allgemeinen Tagesgeschwätzes so wichtig? Haggai Hadas hat, abgesehen davon, dass er Netanyahus Vertrauen genoss und – wie berichtet, – ein persönlicher Freund seiner Frau war, in der Vergangenheit als Chef der Operationsabteilung des Mossad gedient, des dritt- wichtigsten Posten bei der Spionageagentur. Er könnte jetzt der Mossad-Chef gewesen sein, wenn der Amtsinhaber nicht jeden anderen aktiv daran gehindert hätte, dem Job zu nahe zu kommen.
Vor ein paar Wochen berief Netanyahu Hadas für einen sehr sensiblen Posten im Sicherheitsestablishment: die Bemühungen zu koordinieren, um den „gekidnappten“ Soldaten Gilad Shalit frei zu bekommen.
Wenn wir nicht annehmen wollen, dass dieser Mann, ein Vertrauter des Ministerpräsidenten und ein ranghoher Offizier des Mossad ist, der verantwortlich für Entscheidungen über Leben und Tod ist, ein Komplize eines gemeinen Betrugs war, dann kommt man nicht um die Schlussfolgerung herum, dass sein Urteilsvermögen schwer beeinträchtigt ist und dass er in eine Falle getappt ist, die jede Person mit gesundem Menschenverstand von weitem hätte erkennen können.
Wie kann solch eine Person mit solch sensibler Aufgabe wie den Verhandlungen um einen Gefangenenaustausch mit der Hamas betraut werden, an der raffinierte ägyptische Vermittler beteiligt sind?
Und was sagt dies über das Urteilsvermögen von Netanyahu selbst aus, der ihn für diese Aufgabe berief, besonders, wenn seine Frau ihn darum gebeten haben sollte?
Diese Woche war noch durch einen anderen Meilenstein gezeichnet: das Ende der ersten hundert Tage von Netanyahus zweiter Amtsperiode als Ministerpräsident.
Die Kadimaleute erfanden einen eingängigen Slogan: „Hundert Tage, Null Errungenschaften“.
Als erstes ernannte Netanyahu eine aufgeblähte Regierung, in der ein Drittel aller Knessetmitglieder als Minister oder stellvertretende Minister dienen, viele von ihnen ohne ersichtliche Aufgaben. Zwei der drei wichtigsten Ministerien wurden total ungeeigneten Personen zugewiesen: das Finanzministerium an einen ökonomisch Unbedarften und das Außenministerium an einen Rassisten, der von vielen der prominentesten Regierenden offen gemieden wird.
Dann kam eine Reihe von Gesetzen und Maßnahmen, die mit großen Fanfaren verkündigt wurden, um dann still fallen gelassen zu werden. Das letzte Beispiel: das Belegen von Mehrwertsteuer auf Früchte und Gemüse, was im letzten Augenblick auch fallen gelassen wurde.
Aber der Inbegriff von Ineffektivität war die Unfähigkeit, den Stab des Ministerpräsidenten zusammen zu stellen. Der Berater für nationale Sicherheit, Usi Arad ist nicht an Frieden interessiert – weder mit den Palästinensern noch mit den Syrern und will sich nur mit dem Iran-Problem beschäftigen. ( In dieser Woche verkündete Präsident Barack Obama ein offizielles und eindeutiges Verbot für jeden israelischen Angriff auf den Iran). Der Kabinettschef; der Generaldirektor des Büros des Ministerpräsidenten, der politische Berater und andere Mitglieder des Stabs verachten einander und machen sich nicht einmal die Mühe, dies zu verbergen. Der Presse-Berater ist in dieser Woche schon ausgetauscht worden und eine Freundin von Sarah Netanyahu wurde als Beraterin für „Staatsmarkierung“ (Weiß jemand, was dies bedeutet ?) ernannt.
Unterdessen ist Sara’le wieder ins Rampenlicht zurückgekehrt. Eine frühere Stewardess der Luftlinie, die Netanyahu in einem Flughafen im Duty-free-Laden traf, als er noch mit seiner zweiten Frau verheiratet war. Sie war allgemein unbeliebt und diente während der ersten Amtszeit ihres Mannes als Zielscheibe vieler Witze. Dieses Mal bemühte man sich, sie im Hintergrund zu halten. Als der Ministerpräsident trotzdem darauf bestand, sie mit nach Washington zu nehmen, vermied Michelle Obama, sie zu treffen. Als er verpflichtet war, einige europäische Länder zu besuchen, wurde sie im letzten Augenblick von der Liste gestrichen. Aber anscheinend ist sie im Hintergrund sehr aktiv, besonders so weit es wichtige ranghohe Ernennungen betrifft.
Vielleicht braucht dieses Land wirklich einen Wunderaufkleber.
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Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Der am 11.07.2009 erstellte Beitrag wurde zuerst unter www.uri-avnery.de veröffentlicht.