Ein Stadttheater erfindet sich neu – Serie: Oliver Reese läßt in Frankfurt griechische Klassik mit Musical und moderner Sprach- und Gedankenartistik mischen (Teil 1/2)

Der Ödipus mit Maske wird gespielt von Marc Oliver Schulze und als Iokaste steht Constanze Becker auf der Bühne.

Das neue Frankfurter Theater stieg mit Aplomb ein: am 1. Oktober Premiere von Ödipus und Antigone im Doppelpack im Schauspielhaus, am 2. Oktober Premiere von Cabaret im Bockenheimer Depot und am 3. Oktober Premiere von „Stadt aus Glas“ in den Kammerspielen und in den nächsten Tagen geht der Premierenreigen weiter. Was sich auf jeden Fall sagen läßt, ist, daß alle drei Aufführungen beim Publikum ankamen, das durch dreimaliges heftiges Klatschen zeigte, daß es sich zum Befürworter dieser Theaterpraxis macht, wenngleich das rhythmische Klatschen auch etwas davon hatte, sich selbst zu beklatschen, hier wieder ein Theater zu haben, das sie für vorzeigbar halten, leicht krampfig also, nicht das Theater, das Klatschen. Aber ganz sicher galt das enthemmte Klatschen in allen drei Fällen exzellenten Schauspielerleistungen, die durchgängig in allen drei Aufführungen zu erleben waren. Da stellen sich Fragen der Auswahl und der Regie erst in zweiter Linie – oder überhaupt nicht, wenn in Frankfurt gleich die Oberbürgermeisterin und der Kulturdezernent sich als Theaterkritiker so positiv über den Neubeginn äußern, was man in der Zeitung nachlesen kann und damit eine nicht begonnene Diskussion über das, was Theater soll und kann, sogleich beenden.

Regisseur Michael Thalheimer müßte uns erklären, wo beim Doppelpack von Ödipus und Antigone der Erkenntnisgewinn, die dramaturgische Wucht, die Katharsis des einen Stückes durch das weitere zunähme. Gut, sie gehören inhaltlich zusammen, folgen im historischen Ablauf einander, aber sie handeln von völlig unterschiedlichen inneren und äußeren Auseinandersetzungen, Einsichten und Gefühlen. Uns schlug von daher das eine Stück das andere tot. Fangen wir mit der rundherum hervorragend gelösten Spielstätte im renovierten Schauspielhaus an. Die beiderseitigen Türen im Zuschauerraum gehen auf, lauter locker und irgendwie zeitlos gekleidete Frauen und Männer betreten über einen Steg die Bühne, aha denkt man sich, der Chor. So ist es auch. Haben sie auf der Rechten und Linken sich im Block gruppiert, geht es los mit sehr lautem skandierten Chorsprechen, das sich während der Aufführung immer wieder zu Brüllen steigert, wie überhaupt das Brüllen und Schreien ein Markenzeichen dieser Aufführung ist, was uns nicht behagt. Damit ist es aber der Kritisiererei genug, denn, wenn der auf hohen primitiven Holzklötzen – diese Reminiszenz an die Kothurne läßt der Regisseur Gott sei Dank nicht die andere griechische Klassikregel folgen, daß Frauen durch Männer dargestellt werden – ins Rampenlicht stolpernde und seine Zukunft schon durch die gebückte, eingefallene, gekrümmt-schräge Haltung als eine tragische zeigende Ödipus des Marc Oliver Schulze nun in der Mitte steht, gibt er durch expressives Wort- , Gebärden- und Mimikspiel diesen Mittelpunkt der Aufführung nicht mehr her und führt diese zum Erfolg.

Schauspielerisch kongenial seine Mutter-Ehefrau-Königin Iokaste durch Constanze Becker. In ebenfalls eindrücklichem Gebärdenspiel und aus dem Lot geratenen Körpersprache führen beide vor, was Menschen treibt, nichts zu wissen und wissen zu wollen, anderseits schon zu wissen, aber das Wissen nicht wahrhaben zu wollen. Der eigentliche Gehalt des Stückes, was Wahrheit ist, wem sie nützt und ob man sie unter allen Umständen ans Licht der Welt zerren soll, was beide Protagonisten im unterschiedlichen Umgang damit doch eigentlich anrühren, wird jedoch nicht weitergeführt, weil die folgenden Antigone für diesen Ödipus ein Totschlagargument wird.

Zuvor jedoch, was wir hervorragend fanden: wie Ödipus in seinem Körperspiel auf einmal zum Schmerzensmann wurde und tatsächlich wie Christus am Kreuz an die Rückwand genagelt schien, und wie das Spiel mit den Papiermasken – der Chor zieht sie beim Hereinkommen über, Ödipus und Antigone ziehen sie an und bei zu großem Schmerz über die Wahrheit wieder aus, dann wieder an – mehr wird als ein Spiel, sondern die Dramaturgie lenkt. Auch die übrigens sechs Schauspieler gut besetzt und einnehmend. Das Brüllen dagegen, hauptsächlich beim Chor, aber auch bei den Darstellern ist nur laut und verhindert eher die Gänsehaut, die der Gehalt des Stückes doch erzeugen müßte. So bleibt beim Anschauen Respekt für die schauspielerische Leistung, aber weder Erschütterung noch Katharsis stellen sich ob des tragischen Geschehens ein.

Die aufgeführte „Antigone“ müßte hier in „Kreon“ umbenannt werden. Denn dieser – wieder spielen dieselben Schauspieler Marc Oliver Schulze und Constanze Becker die Hauptrollen, eine physische, psychische und Sprachgedächtnis-Großtat – übernimmt faktisch das Geschehen, wird nicht zum Widerpart der Antigone, sondern zum Blutmonster, der despotisch die sittlich begründete Beerdigungstat der Antigone mit Blut rächt. Was sonst eine geschliffene Auseinandersetzung um Ethik und Politik ist, findet hier nicht statt. Am Schluß ist nur noch Blut, uns insgesamt zuviel rote Farbe, wobei nur die Antigone der Constanze Becker sehr merkwürdig blaß bleibt.

Am nächsten Tag gab es mit „Cabaret“ im Bockenheimer Depot, einem ehemaligen Straßenbahndepot der Gründerzeit und herrlich für Theater geeignet, Zucker fürs Publikum. Regisseur Michael Simon hatte erst einmal alles ganz anders gemacht, als die Sally Bowles der Liza Minelli vormachte, in dem er seine Sally – Franziska Junge – zur Wasserstoffblondine machte, sie am Schluß aber dann doch nur noch englisch singen ließ. Hier waren mit den weiteren Mitspielern: Christian Bo Salle, Torben Kessler, Mathis Reinhardt, Josefin Platt, Valery Tscheplanowa, Joachim Nimtz, Irene Klein und – total schräg – James Rizzi richtige Artisten am Werk, eine echte Nummernrevue, doch das Gefühl eines Theaterstück oder eines Musicals, das uns etwas sagen möchte, stellte sich nicht ein. Was das Stück soll und wie die Bedrohung des aufziehenden Nationalsozialismus Wirklichkeit wird, kam nicht heraus, und auch die musikalische Unterstützung durch die sechsköpfige Band „Theatermusikensemble“ war manches Mal einfach zu laut. So blieb trotz einzelner artistischer Hochleistungen der sich hauptsächlich im Spagat vorwärtsbewegenden Sexdamen des Establishments Kit-Kat-Club und dem innigen Paar von Josefin Platt und Joachim Nimtz als Fräulein Schneider und dem jüdischen Herrn Schultz ein Gefühl der Leere zurück und irgendwie dachten wir geradezu sehnsüchtig an Bertold Brecht und seine szenischen Ansprüche.

Wiederum völlig anders und vom Bühnenbild und dem Geschehen her ausgesprochen gelungen, dann Paul Austers Romanvorlage „Stadt aus Glas“ auf den Styroporbrettern des ebenfalls renovierten Kleinen Hauses. Anders, aber in einem gleich: hervorragende Schauspielerleistungen sind auch hier zu attestieren. Mehr darüber im nächsten Teil, den wir mit einer Besprechung von „Abgesoffen“ einer Uraufführung von Carlos Eugenio López am 6. Oktober koppeln wollen.

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