Der Suhrkamp Verlag verfügte, dass die Aufführung nicht den Originaltitel tragen dürfe. Volker Lösch und die Dramaturgin Beate Seidel hatten mit ihrer Textfassung gegen die Regeln der Peter-Weiss-Denkmalpflege verstoßen.
Und dann griffen auch noch einige Hamburger hundertfach Millionäre, vertreten durch ihre Anwälte, in die Produktion ein. Diese Wohlhabenden hatten es, vielleicht sogar geschmeichelt, akzeptiert, im „Manager Magazin“ in der Liste der „300 reichsten Deutschen“ mit Namen, Firmenadresse und Höhe ihres Vermögens genannt zu werden. Dass diese Angaben auf der Bühne des Hamburger Schauspielhauses von real existierenden Armen zitiert wurden, führte jedoch zu Protesten und einstweiligen Verfügungen.
Die Aufführung hat unter den Attacken nicht gelitten, ganz im Gegenteil.
Der von Suhrkamp untersagte Originaltitel lautet: „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspieltruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade.“
Als das Stück 1964 am Berliner Schillertheater uraufgeführt wurde, waren lange Titel in Mode. Die Umbenennung, die Volker Lösch jetzt vornehmen musste, ist eindeutig ein Gewinn.
„Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?“ ist einprägsam und außerdem Originaltext von Peter Weiss aus seinem Stück, Beginn des Refrains, mit dem der Chor sich immer wieder an Marat wendet:
“Marat was ist aus unserer Revolution geworden
Marat wir wolln nicht mehr warten bis morgen
Marat wir sind immer noch arme Leute
und die geforderten Änderungen wollen wir heute.“
Die Namen der reichen Hamburger verliest der Chor immer noch am Ende der Vorstellung. Nur in einigen Fällen teilen die Chormitglieder das Verbot der Namensnennung mit, verkünden die Höhe des Vermögens und fügen die Platzziffer hinzu, unter der die Namen und Adressen im „Manager Magazin“ aufgeführt sind.
Was den Vorwurf der Bloßstellung von sozial Schwachen angeht:
Völker Lösch lässt das Stück von Peter Weiss nicht im Hospiz von Charenton spielen. Statt der PatientInnen tritt ein Chor von sozial Ausgeschlossenen auf. Verfälscht wird das Stück dadurch nicht, denn in der Irrenanstalt Charenton, in der Marquis de Sade von 1801 bis zu seinem Tod 1814 interniert war, wurden neben Geisteskranken vorwiegend Menschen eingeschlossen, mit denen die Gesellschaft ihrer Zeit aus politischen oder moralischen Gründen nichts zu tun haben wollte.
Diese Art der Abschiebung gibt es nicht mehr. Die Zahl der von der heutigen Gesellschaft Ausgeschlossenen jedoch wächst beängstigend. Ins Aus geraten vieler dieser Menschen einfach dadurch, dass sie ihre Arbeit verlieren. Sie müssen vom Existenzminimum leben, werden ausgegrenzt oder ziehen sich selbst zurück, aus Scham über eine Situation, die sie nicht verschuldet haben.
Der Chor der Armen in Volker Löschs Iszenierung besteht aus 25 Menschen, Frauen und Männern zwischen 21 und 76 Jahren, die Arbeitslosengeld II, Mindest- oder Schwerbehindertenrenten beziehen. Dieser Chor hätte auch mit SchauspielerInnen überzeugend gestaltet werden können. Lösch ging es jedoch darum, die Armen aus ihrer Isolation herauszuholen, ihnen ein Podium zu geben und die Möglichkeit, etwas zu leisten.
Die ChoristInnen haben ihre Texte, gemeinsam mit Dramaturgin Beate Seidel, selbst erarbeitet. Sie berichten von ihren Schicksalen, ihren Problemen und Gefühlen und stellen ihre Forderungen. Dabei genießen sie den Schutz der Gruppe. Die Macht, die sie gemeinsam repräsentieren, verleiht ihnen auch Aussage- und Überzeugungskraft, wenn sie zu dritt oder allein sprechen.
Chorleiter Bernd Freytag hat diesen Chor hervorragend lebendig arrangiert. Zu erleben sind individuelle Persönlichkeiten, die ihre Würde nicht verloren haben. Sie stellen sich nicht aus. Sie fordern den Respekt ein, der ihnen zukommt.
Der hoch professionell agierende Chor, der auf erschreckende und erschütternde Weise Nähe zum Publikum herstellt, präsentiert sich auch als Hartz IV-Klischee:
Im Bühnenbild von Cary Gayler, einer Gummizelle, auf deren Rückwand das Aldi- mit dem Lidl-Logo verquickt zu sehen ist, toben die 25 Menschen, die gerade noch in individueller Kleidung zu sehen waren, (Kostüme Carola Reuther) als uniforme Masse herum, alle in Jogginghosen, Parkas und blauen Wollmützen. Sie rennen mit den Köpfen gegen die Wände, prügeln sich um Almosen und packen sich selbst zwecks Entsorgung in Müllsäcke ein.
Volker Lösch hat die Solisten der Aufführung grandios mit dem Chor verbunden und in ihn hineingearbeitet.
Hans Jörg Krumpholz als Anstaltsleiter Coulmier dirigiert die chaotischen Rebellen wie ein Tierbändiger, animiert sie zu albernem Motivationstraining und hämmert ihnen positives Denken in die Gehirne.
Marat ist nur einer in der Reihe der selbsternannten Heilsbringer. Achim Buch debattiert als von seiner Hautkrankheit geplagter starrköpfig leidenschaftlicher Revolutionär in der Badewanne, schwebt als Lenin-Denkmal mit ausgestrecktem Arm vom Schnürboden herab, tattert als greiser Fidel Castro über die Bühne und klugschwätzt als Oskar Lafontaine.
Charlotte Corday (Jana Schulz), verfolgt von ihrem sexbesessenen Liebhaber Duperret (Marco Schulz) reist durch die Zeit, den Dolch in den Händen und erlegt am Ende mit Marat zugleich alle, die nach ihm kamen.
Sensationell ist Marion Breckwoldt als Marquis de Sade. Im weiten schwarzen Anzug lagert sie an der Rampe, diskutiert mit Marat, greift manchmal in Volksgetümmel ein, und bleibt dabei immer außerhalb der Geschehnisse, ein zynischer Egozentriker, der die Menschen verachtet, nur an sich selbst glaubt und zugleich einer, der von unsäglichen Qualen zerrissen ist.
Breckwoldts Sade ist ein ekliges Monster, furzend und sich selbst Fett absaugend, wie auch ein verführerischer, mit seinen destruktiven Ideen brillierender Mephisto, und ein verzweifelter, leidender Mensch, erschütternd in seinem Kampf gegen das Verlorensein.
Nach Schluss der Vorstellung erscheinen alle Mitwirkenden gemeinsam zum Applaus. Sie verbeugen sich nicht. Sie stehen aufrecht und sehen das Publikum an.
Das Theatertreffen 2009 endete mit Volker Löschs Produktion „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?“ Diese Inszenierung ist wie ein Paukenschlag, dessen Nachbeben lange im Ohr bleibt.
„Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?“, Regie Volker Lösch, eine Produktion des Deutschen Schauspielhauses Hamburg, war im Rahmen des tt 09 am 17. und 18.05 im Haus der Berliner Festspiele zu erleben.