Der vierundzwanzigjährige Jack Burrage (Andrew Garfield) ist nach vierzehnjähriger Haft entlassen worden. Nach einem Mord, den er als Kind in einer englischen Kleinstadt beging, ist er nur als “Boy A” bekannt. Unvertraut mit dem Alltag außerhalb der Strafanstalt versucht er, unterstützt von seinem Bewährungshelfer Terry (Peter Mullan), ein neues Leben zu beginnen. Arbeit, Freunde, eine Beziehung mit der zärtlichen Michelle (Katie Lyons) – Jacks Wunsch scheint sich zu erfüllen. So sicher fühlt er sich, dass er daran denkt, seine wahre Identität zu enthüllen. Doch ein anderer kommt ihm darin zuvor.
Die Ähnlichkeiten der Handlung von Regisseur John Crowleys Drama “Boy A”, basierend auf dem gleichnamigen Roman Jonathan Trigells, zum Fall Bulger sind unübersehbar. Jack und Mittäter Philip sind in der Filmhandlung 1983 geboren, die tatsächlichen Täter 1982. Zum Zeitpunkt der Entlassung waren beide etwa so alt wie der Filmprotagonist. Ursprünglich sollten die Täter bereits nach acht Jahren freigelassen werden, was wegen Befürchtung öffentlichen Aufruhrs unterblieb. Philip wird im Film nach sieben Jahren entlassen und von einem Lynchmob erhängt. Die Mörder Bulgers erhielten neue Identitäten, die Entlassung wurde von einer Hetzkampagne der Boulevardpresse begleitet. Diese Medienhetze, welche doppelt verwerflich ist, weil sie einerseits den Tätern eine Rehabilitierung unmöglich macht, andererseits das Verbrechen mit geheuchelter Anteilnahme ausschlachtet, ignoriert der Film im Gegensatz zu Jonathan Trigells Roman fast völlig.
“Boy A” lässt einen mehrmals mit seinen Handlungsaspekten allein. Manchmal ist dieses Alleingelassen sinnvoll. Dann ergibt es Raum zur Figurenentwicklung, etwa, wenn auf eine pauschale Begründung der Tat in den Biografien der Mörder verzichtet wird. Manchmal entsteht jedoch ein Mangel. Philipe (Taylor Doherty) und Jack versichern einander, beste Freunde zu sein. Während ihres späteren Gerichtsprozesses betont der Rechtsanwalt, jeder von ihnen habe das Verbrechen auf den anderen abzuwälzen versucht. War der Freundschaftsschwur unehrlich, wurde er gebrochen oder wurden die von den Prozessvorgängen überforderten Kinder von Anwälten oder Familie zu ihren Aussagen gedrängt? Hier spürt man am nachdrücklichsten, daß Crowleys Drama sich um seine Kernfrage herumdrückt: Das Bewusstsein von Schuld und der Umgang mit dieser.
Besitzen die kindlichen Täter ein Bewusstsein für die Schwere ihres Vergehens? Bereuen die Jungen den Mord und wenn nicht, geschieht dies aus Grausamkeit oder Unverständnis? Denn Voraussetzung für Reue ist das Begreifen von Schuld. Der Umgang mit dem Wissen, etwas Ungeheuerliches getan zu haben, ist der interessanteste Aspekt der Thematik. Ihn aber greift der Film nur marginal auf. Bis zuletzt erschließt sich nicht, ob Jack damals klar war, was er tat oder ob es ihm heute bewusst ist. So feinfühlig die Charakterisierung dieses um ein normales Leben bemühten jungen Menschen ist, so hervorragend Andrew Garfield seine Filmfigur spielt, bleibt dennoch eine unüberwindbare Kluft zwischen dem erwachsenen Jack und dem kindlichen Mörder. So richtig kann man nicht glauben, dass der schüchterne junge Mann, der ein Mädchen nach einem Autounfall rettet, der so verliebt in seine Freundin ist, einst ein Kind mit einem Teppichmesser erstochen hat. Bevor es zu der Tötung kommt, wendet sich die Kamera ab. Man weiß um Jacks Täterschaft, doch man sieht ihn nicht als Täter. Das Verbrechen scheint ein anderer begangen zu haben, ein Außenseiter, der mit dem bei Mädchen und Kollegen beliebten Jack nichts zu tun hat. Das Abwenden seiner Freunde erscheint als Verrat, ohne dass “Boy A” hinterfragt, inwieweit die Reaktionen gerechtfertigt sind.
Zuvor überzeugte die Regie mit subtiler Andeutung der sich anbahnenden Gewalt. Philip beobachtet einen sich am Angelhaken windenden Regenwurm, die Jungen beobachten das Todeszucken eines Fischs und werfen den Kadaver anschließend in den Fluss. John Crowleys Diskretion wird jedoch zu Wegsehen. .“Boy A” kapituliert davor, das Grauenvolle des Geschehens nachvollziehbar zu machen. Er entrückt es in den Bereich des “Unbegreiflichen”. Dies genügt nicht mehr. Der Kobe-Kindermörder, Mary Bell, die Ermordung James Bulgers, Massenmorde Jugendlicher an Schulen – Kinder, die töten, gerade andere Kinder, sind kein Einzelfall. Die Nachricht über ein von Minderjährigen verübtes Gewaltverbrechen ruft keinen fassungslosen Unglauben hervor, sondern die Frage: “Schon wieder?” Trotz seiner Schwächen ist “Boy A” ein bemerkenswerter Film. Ein einfühlsames Charakterporträt über einen verkappten sozialen Grenzgänger, hervorragend gespielt und einfühlsam inszeniert. Doch er genügt nicht mehr als Aufarbeitung seiner schmerzlichen Thematik. Primitiver Verteufelung der Täter, wie der Staatsanwalt der Handlung sie äußert, entzieht sich “Boy A”. Schon diese Erkenntnis, dass die Mörder nicht “böse” oder ”schlecht” sind, sondern daß mehr hinter ihrem Verbrechen steht, ist bedeutend. Ausreichend ist sie nicht.
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Originaltitel: Boy A
Genre: Drama
Land/Jahr: Großbritannien 2007
Kinostart: 7. Mai 2009
Regie: John Crowley
Drehbuch: Mark O ´Rowe
Darsteller: Andrew Garfield, Peter Mullan, Katie Lyons
Verleih: Senator
Laufzeit: 103 Minuten
FSK: ab 12