Vorurteile machen Spaß. Besonders dann, wenn sich ihre vermeintliche Richtigkeit hin und wieder an konkreten Beispielen belegen lässt. Dann kippen sie zuweilen sogar um in pure Schadenfreude bis hin zu beißendem Spott. Wie im Fall des bedauernswerten Malermeisters aus dem Berner Oberland, der das Zifferblatt einer Kirchturmuhr vergolden sollte, um dann jedoch nach wenigen Tagen den Auftrag unerledigt zurück zu geben. Hatte ihm doch, so seine erstaunliche Erklärung, „der große Zeiger den Pinsel stündlich mit Wucht aus der Hand geschlagen“.
Doch selbst wenn sich Beispiele wie dieses als humoristisch übertrieben erweisen, werden die Berner in Stadt und Oberland ihren Ruf als Weltmeister der Langsamkeit nicht los. Und wie sie es aus der Defensive heraus auch drehen und wenden, sehen sie sich doch immer wieder als Zielscheibe des Spotts. Wer aber die Lacher nicht auf der eigenen Seite hat, für den ist es nahezu unmöglich, die Spötter vom Gegenteil ihres hartnäckigen Vorurteils zu überzeugen.
Gediegenheit und Bodenständigkeit
Doch liegt in recht verstandener Langsamkeit nicht auch etwas Positives? Etwas Gediegenes, das mit seiner Bodenständigkeit und Gewissenhaftigkeit alle Oberflächlichkeit energisch zurückweist? Wie in der Altstadt von Bern, die mit ihren schmucken Fassaden und nahezu endlosen Bogengängen nicht nur Zeugnis ablegt von ihrem einstigen im Weinhandel begründeten Reichtum, sondern auch von ihrem Kunstverständnis gepaart mit überzeugender Stilsicherheit.
So erscheint es als nicht überraschend, dass sich eine solch gediegene Kulisse mit ihren schmucken Repräsentationsbauten und stolzen Bürgerhäusern seit dreißig Jahren als Unesco-Weltkulturerbe bezeichnen darf. Ein wahres Mekka für all jene, die eine solch Kulisse und das von ihr ausstrahlende Lebensgefühl zu schätzen wissen. Rund um den Uhrturm, mit seinem mehr als fünfhundert Jahre alten Uhrwerk als dem Wahrzeichen der Stadt. Oder auf dem Kornhausplatz als dem zentralen Treffpunkt aller Müßiggänger aus nah und fern.
Schwungvolle Schlaufe
Hauptgrund für die städtebauliche Geschlossenheit der schweizerischen Hauptstadt ist die Aare. Nach ihrem Ursprung im Thuner See umrahmt sie mit einer schwungvollen Schlaufe die Berner Altstadt und verleiht dieser dadurch Einheitlichkeit und Form. Für die Berner ist es bei sonnigem Wetter eines der schönsten Freizeitvergnügen, sich am Eintritt des Flusses in die Stadt von seiner rasanten Strömung erfassen und davontragen zu lassen, um irgendwo gegenüber am anderen Ende der Altstadt wieder ans Ufer gespült zu werden.
Franziska, eine wie sie sagt „Bernerin aus Überzeugung“, ist eine der Schwimmerinnen, die ihre Begeisterung an dieser sportlichen Betätigung nicht verheimlicht. Sich allein oder in Begleitung einfach dahin treiben zu lassen, so gesteht sie, bedeute für sie „die angenehmste Art, die Zeit um sich herum zu vergessen“. Denn der Zeitdruck sitze ihr in ihrem Berufsleben oft genug im Nacken und erfordere diesen sportlichen Ausgleich. Die Wassertemperatur von gegenwärtig zwanzig Grad komme, da sei sie ganz sicher, selbst wasserscheuen Zauderern entgegen.
Kuhweiden und Kornfelder
Insgesamt also, so betont sie beim Abschied, ist es ein Naturerlebnis der besonderen Art inmitten einer in Jahrhunderten gereiften Kultur, die mit ihren steinernen Zeugnissen weit ins Mittelalter zurückreicht. In der Tat erweist sich die Naturverbundenheit der Berner als nicht weiter verwunderlich. Es genügt ein Blick über die Stadtgrenzen hinaus auf das Berner Oberland, das sich mit seinen satten Kuhweiden und wogenden Kornfeldern als ausgesprochen attraktiv präsentiert. Besonders vom Fahrrad aus, mit dem sich das sanft gewellte Hügelland bequem erschließen lässt.
So zum Beispiel das Emmental, das mit seinen traditionsreichen Gehöften den Anschein erweckt, als sei hier die Zeit für einige Jahrzehnte stehen geblieben. Und mit ihr der bäuerliche Lebensstil, der noch heute im Wesentlichen darin besteht, ausreichend Milch von den umliegenden Weiden für die zentrale Käserei heran zu schaffen. Gut tausend Liter sind erforderlich, so erklärt Bäuerin Rösli Rutschi, als dort gerade eine Käseform mit einem Kesselinhalt Weichkäse gefüllt wird. Insgesamt achtzig Kilogramm sind es, die dann über mehrere Monate zu einem durchlöcherten Käserad heranreifen. Als der legendäre „Emmentaler“ findet er anschließend in unterschiedlichen Reifegraden auf den Märkten weit über die Grenzen des Berner Oberlandes hinaus seine Käufer.
Zeitmaschine mit Rückwärtsgang
Ähnliche Einblicke in die alten handwerklichen Traditionen der Zentralschweiz vermittelt auch das Freilichtmuseum Ballenberg. Hier wurden auf einer kaum überschaubaren Fläche die traditionellen Häusertypen der gesamten Schweiz in ansehnlichen Einzelbeispielen zusammengetragen. Museumsführer Hans Maurer weiß sie alle zuzuordnen und sogar ihre einstigen Besitzer zu benennen. Natürlich kennt er auch deren biografische Hintergründe, wodurch die verschlungenen Pfade der Schweizer Geschichte deutlich werden. Wie zum Beispiel beim prachtvollen Haus von Benedikt Osterli aus Ostermundigen, der sich vor mehr als zweihundert Jahren mit Napoleon anlegte und für diese Kühnheit mit dem Leben bezahlte.
In einer Stube im Erdgeschoss arbeitet nun Stickerin Martha Holliger an einer Tischdecke. Sie hat sie in einen kleinen Stickrahmen eingespannt hat, um Fläche für Fläche das Kunstwerk zu vollenden. Bei höchster Konzentration und doch in ruhiger Gelassenheit nimmt ein florales Muster Gestalt an, während im Nachbarhaus zwei Hutmacherinnen mit ihren geflochtenen Strohhüten in unterschiedlichen Formen und Farben die interessierten Blicke auf sich ziehen. An anderer Stelle dann wieder traditionelle Schindelmacher, Apotheker und Strohdachbauer. Ganz wie in einer Zeitmaschine mit Rückwärtsgang.
Suche nach den Hochgebirgsriesen
Im gleichen Gefährt führt auch der Weg von Ballenberg hinunter an den Thuner See, speziell in das farbenfroh gestaltete Städtchen Thun. Auch hier beweisen die in drei Ebenen errichteten Terrassenhäuser unterhalb des Schlosses die in Jahrhunderten gewachsene handwerkliche Kunstfertigkeit. Besonders die prachtvollen Zunfthäuser, die den Rathausplatz umrahmen, zeugen von der Qualitätsarbeit der Handwerker, die mit diesem stimmigen Erscheinungsbild jegliche Kritik an der vermeintlichen Langsamkeit in der Region umgehend in ihre Schranken verweisen.
Und doch bereitet es allergrößtes Vergnügen, der schmucken Stadt für ein paar Stunden den Rücken zu kehren. Mit einem der traditionellen Ausflugsdampfer, die sich vom Stil her perfekt in das Landschaftsbild einpassen. Die Fahrt geht entlang den kleinen Anlegestationen am Ufer des Thuner Sees hinüber nach Merligen, wobei sich der Blick vom Beatus-Hotel weit über den See hinaus nach oben richtet zu den an das Seeufer heranragenden Hochgebirgsriesen. Sind dies im Hintergrund bereits die im Abendlicht ineinander verwobenen Umrisse von Eiger, Mönch und Jungfrau?
Auffahrt zum Jungfraujoch
Des Rätsels Lösung ermöglicht ein Abstecher nach Grindelwald. Denn von hier aus führt eine Zahnradbahn hinauf zur Kleinen Scheidegg im Schatten der legendären Eiger Nordwand. Ein Felsmassiv, das sich hier bedrohlich steil auftürmt und schon viele das Fürchten gelehrt hat. „Wer sie unterschätzt“, so Bergführer Hans-Peter Schwizer, „hat schon verloren.“ Im 75. Jubiläumsjahr der Erstbesteigung gilt es daher insgesamt 69 Opfer zu beklagen, deren sportlichem Ehrgeiz der Berg Grenzen setzte. Bis auf den Ausnahmekletterer Ueli Steck, der vor fünf Jahren die Nordwand wie ein Spiderman ganz ohne Ausrüstung in nur zwei Stunden und 47 Minuten bezwang. Ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Ehrenrettung des Berner Oberlandes mit seinem immer wieder aufflackernden Langsamkeits-Trauma.
Das Innere des Eiger-Massivs ist bereits seit einhundert Jahren erschlossen. Durch einen gewagten Tunnel für eine Zahnradbahn, die in weitem Bogen hinaufführt zum Jungfraujoch zwischen Mönch und Jungfrau. Bis zum höchsten Bahnhof Europas in 3454 Metern Höhe in unmittelbarer Nähe des Aletschgletschers, als längster Gletscher der Alpen zugleich das Herzstück des Unesco-Welterbes Schweizer Alpen. Aus der Vogelperspektive der Aussichtsplattform gewährt der Gletscher tiefe Einblicke in das Innenleben seiner Gletscherspalten, die sich an den abknickenden Bruchstellen auftun.
Wolkenmeere und Nebelfetzen
Ihnen folgen erwartungsvolle Blicke hinunter ins Tal, soweit nicht dichte Wolkenmeere und vorbei huschende Nebelfetzen ihr Spiel mit den Besuchern treiben. In diesem Fall wird es höchste Zeit für den „Eispalast“, dessen frostige Gänge und Hallen dreißig Meter unterhalb der Oberfläche in den Aletschgletscher hinein getrieben wurden. Eine bizarre Märchenwelt, in der es bei fantasievoller Illumination funkelt und glitzert, als hätte Väterchen Frost mitten in seinem Element eine neue Residenz eröffnet.
Doch entstammt diese nicht nur einer geheimnisvollen Märchenwelt. Denn bei genauem Hinsehen werden die Staubschichten erkennbar, die sich vor langer Zeit bei Sandstürmen in der Sahara hier ablagerten und alsbald vom Gletscher verschlungen wurden. Unaufhaltsam und doch in zeitlichen Dimensionen, wie sie auch heute im Berner Oberland ihre Gültigkeit noch nicht verloren haben.
Reiseinformationen „Bern/Berner Oberland“
Anreise
Per Flugzeug mit SkyWork www.flyskywork.com; per Zug über Basel/Luzern nach Bern; per Auto über Basel, Zürich oder Genf direkt nach Bern.
Einreise
Gültiger Reisepass oder Personalausweis
Reisezeit
Sommersaison von Frühling bis Herbst für Außenaktivitäten und Wintersaison für Wintersport