Sanders Werk ist ein Film zwischen den Genres. Aus heutiger Perspektive wirkt „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit“ fast wie ein Experimentalfilm, angesiedelt zwischen Charakterporträt, Sozialsatire und Drama. Mehr Tristesse als Menschen sieht man in dem von der Mauer zerrissenen Berlin, in welchem Edda Chiemnyjewski, gespielt von Sander selbst, einen Balanceakt lebt. Zwischen ihrem Kampf um künstlerische Selbstverwirklichung und beruflichen Erfolg bleibt ihr kaum Zeit für ihre kleine Tochter. In minimalistischen Szenen rührt Sander an die leise Tragik der schleichenden Entfremdung von Mutter und Tochter. „Soll sie sich den Magen verderben.“, denkt Edda laut und meint es ganz anders, wenn sie ihr Kind für ihre Abwesenheit mit einer doppelten Portion Eiscreme entschädigen will. „Heute war kein schöner Tag.“, sagt die Tochter am Abend trotzdem. Morgen wollen sie einen besseren machen, verspricht Edda. Morgen wird sie wieder rennen und versuchen, zu Fotografien und zu verkaufen. Fast trostlos sind die Bilder, in welche Sander „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit“ Eddas beschreibt. Gedreht in schwarz-weiß, doch ein grau-in-grau Film. Obwohl manchmal schleppend anzusehen, ist der von Ulrich Köhler gewählte Beitrag ein Glücksgriff für das Berlinale Sonderprogramm 40 Jahre Forum. „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit“ fordert heraus mit seiner spröden Kantigkeit, deren Individualismus den der Hauptfigur spiegelt. Der Konflikt Eddas und der weiblichen Nebencharaktere zwischen Selbstverwirklichung und beruflicher Realität hat kaum etwas von seiner Aktualität verloren.
Fast nebenbei schildert die Regisseurin und Drehbuchautorin kritisch und unsentimental den materiellen Überlebenskampf der alleinerziehenden Mutter. Eddas freiberufliches Arbeiten setzen viele Auftraggeber automatisch mit umsonst arbeiten gleich. Zwei Kunden wollen von Edda Aufnahmen für ein Projekt, eine Collage, wie sie ein gewisser anderer Fotograf mache. Warum sie nicht bei dem seien? „Der hat keine Zeit.“ Dass Edda Zeit hat oder sie sich nimmt, ist für die beiden selbstverständlich. Zahlen wollen sie generell nichts: „Wir kriegen auch nichts dafür.“ Dass sei kein Grund, warum sie nichts kriegen solle, entgegnet Edda. Mit sarkastischem Humor enthüllt Sander die Entwertung freiberuflicher Arbeit, wie sie heute immer noch praktiziert wird. Filmisch hat sich in vier Jahrzehnten Forum viel getan, gesellschaftspolitisch weniger. „Versteht ihr, ich lebe davon.“, muss Edda den Kunden erklären, welche sie mit kindlicher Naivität anblicken. Ob alternative Sozialaktivisten, Zeitungsverleger oder kulturelle Förderprojekte, alle teilen offen oder unausgesprochen die Ansicht, dass eine Freiberuflerin wie Edda umsonst arbeiten könne. Mehr noch soll sie dankbar sein, dass ihre Fotos überhaupt gedruckt werden. So muss sie eine Zeitung daran erinnern, dass ihr für eines ihrer Fotos, welches ungefragt verwendet wurde, ein Honorar zusteht. „Mit Freundlichkeit kommt man manchmal nicht sehr weit.“, erklärt sie dem anscheinend pikierten Verlagsangestellten am Telefon.
Edda verwendet zu viel Zeit auf das Erfassen einer Situation, kritisiert eine Hintergrundstimme das persönliche Interesse der Fotografin an ihren Motiven. Was in der Berufswelt für Edda zum Nachteil wird, zeichnet Sanders authentisches Lebensporträt „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit“ aus. Wie Eddas Motive sind die von „Redupers“ nur aus einem bestimmten Winkel interessant. Nicht immer gelingt es Sander, ihn einzunehmen. Die Momente, in denen es gelingt, sind das Ansehen wert.
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Titel: Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers
Berlinale Forum
Land/ Jahr: BRD 1977
Genre: Drama
Regie und Drehbuch: Helke Sander
Darsteller: Helke Sander, Joachim Baumann, Franck Burckner, Eva Gagel, Gesine Strempel
Laufzeit: 98 Minuten
Bewertung: ***