Die Angst vor der Burka – Eine Französin trug die Burka im Selbstversuch und schrieb über ihre Erfahrungen das Buch „Un voile“

Axel Veiel schrieb am 29.1.2010 in der Frankfurter Rundschau unter der Überschrift „Ich hatte Angst“ -„Wie der Burka-Selbstversuch einer Französin die Schleierdebatte anheizen könnte“ über den Selbstversuch der französischen Künstlerin Berengiere Lefranc. Sie hatte im Sommer 2009 4 Wochen lang die Burka in der Öffentlichkeit getragen. Sie suchte im Experiment Selbsterkenntnis und kreative Kraft. Ihr Buch über ihre Erfahrungen „Un voile“ (ein Schleier) kommt demnächst auf den Markt und könnte die Debatte anheizen.

Lefranc erzählt: Es war die Hölle. Ihr ganzer körperlicher und seelischer Ausdruck war den Blicken entzogen. Doch auch wenn die Menschen nicht wussten, wer sich unter der Burka verbarg, sie fällten ein vernichtendes Urteil. Sie nahm verächtliche Blicke wahr. Männer hätten vor ihr auf den Boden gespuckt, Passanten mit dem Finger auf sie gezeigt und sie geduzt. Ängstliche Kinder seien weggerannt. Mutige hätten sie gekniffen, um zu sehen, ob sie kein Gespenst sei. Der Eintritt zu einem Supermarkt sei ihr verwehrt worden. Die Schönheit des lilafarbenen Gewandes schien niemanden milde zu stimmen. Sie hatte Angst, schwitzte, fühlte sich wie in kochendem Wasser. In ihrem Stoffgefängnis war es 5 Grad wärmer als draußen. Was müssen Frauen beim Burkatragen in den südlichen, wärmeren Ländern schon alleine durch die Temperaturerhöhung alles aushalten?! – ein Martyrium.

Für die Einen gilt die Burka viel mehr noch als das Kopftuch als frauenverachtend und islamistisch, für die Anderen gilt ein Verbot als eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte, der Religionsfreiheit und der religiösen Identität, und das nicht nur von Interessensgruppen unter den Moslems. Wir gebildete Mitbürger wollen im aufgeklärten Staat ja offen und tolerant sein.

Mich interessieren mehr die Hintergründe und Zusammenhänge. Als eigene nur beschränkte Erfahrung möchte ich auf meinen Aufenthalt vor 10 Jahren im Jemen zurückgreifen. Dort trugen alle Frauen in der Öffentlichkeit die Burka, meist lange schwarze Gewänder, manchmal auch weiß, die mich an unsere uns vertrauten Nonnen erinnerten. – Nonnen können durch das sichtbare Gesicht bei gleichzeitiger Körperverdeckung, vielleicht gerade dadurch, auch erotische Phantasien erwecken.- Nur die Augen als Sehschlitz blieben bei den Frauen im Jemen frei. Anfangs war mehr meine Neugierde geweckt, und ich versuchte mir durch die Augen und den Gewänderfluss ein Bild zu machen. Bald ertappte ich mich dabei, die Frauen einfach zu übersehen. Sie waren für mich nicht mehr existent. Auf dem Lande liefen Mädchen, die größeren schon in der Burka, vor uns fremden Männern davon. Im inzwischen gewohnten Straßenbild nahm ich bei mir nicht Verachtung, Aggressionen oder Angst wahr wie die Franzosen im ungewohnten Straßenbild. Horche ich tiefer in mich hinein, können derartige Gefühle durchaus vorhanden sein.

Aber aus unseren Alltag weiß ich, wie sehr tief in ihrem Inneren Männer wütend werden und verächtlich reagieren können, wenn Frauen sich unattraktiv nach außen darstellen, durch Kleidung oder Frisur, wenn sie vollgefressen sind, durch den Gesichts- und Körperausdruck und den dicken Hintern. Die Aggressionen kommen schon in der Schreibweise zum Ausdruck. Meist ignorieren sie unattraktive Frauen. Frauen wird es gegenüber Männern nicht anders ergehen. Wenn ein Mensch aus sich nichts macht, sich hinter einer Hässlichkeit verbirgt, schafft er latente, manchmal offene Aggressionen. Den Grund sehe ich darin, dass potentielle Partner im zwischenmenschlichen Raum verloren gehen.

Das Sehen und Gesehen werden im öffentlichen Raum ist, solange Achtung, Wertschätzung und Grenzen gewährleistet sind, eine spannende Sache, ein Lebenselixier. Das Ausgehen in Cafés, Vernissagen, Theater und Kneipen lebt von diesem Lebenselixier. Oft genug wird aber die Achtungsgrenze überschritten. Bauarbeiter pfeifen vorbei kommenden Frauen nach und machen zweideutige Bemerkungen. In mediterranen Ländern kann es vor allem blonden allein daher spazierenden Frauen passieren, dass sich ein Rattenschwanz von Männern hinter ihnen bildet. Meist empfinden sie dies als Belästigung.

Wenn man weiß, wie wichtig der Blick, der Eindruck beim Anderen ist, wie sehr der Mensch im Angesicht lebt – davon leben Frisöre, eine Mode-, Schönheits- und Kleidungsindustrie – sind die Aggressionen und Verachtung für Menschen, die sich diesem völlig entziehen, gut verständlich. Wie sehr leben vor allem junge Frauen, aber auch Männer von ihrer äußeren Attraktivität. In dieser Attraktivität haben sie die Chance manche Selbstwertdefizite, die sie in ihrer Kindheit erworben haben, zu kompensieren und zu korrigieren. Die Burkaträgerinnen entziehen sich völlig dem öffentlichen zwischenmenschlichen Miteinander. Deswegen schreibt Lefranc berechtigt „wer die Burka aus freien Stücken trägt, muss sehr gute Gründe haben, und diejenigen, die dazu gezwungen werden, sind von ganzem Herzen zu bedauern.“

Wo liegen die Gründe? Der Sinn im fundamentalistischen Islam ist wohl, Frauen vor den begehrlichen, sogar lüsternen Blicken von Männern in der Öffentlichkeit und den herabsetzenden Blicken von Frauen zu schützen. Der begehrliche Blick bleibt auf den privaten Raum beschränkt, und die Frau gehört dadurch allein ihrem Manne, nicht einer Öffentlichkeit. Im mittleren afrikanischen Gürtel wird die Frau beschnitten bis zur Sexualverstümmelung, um treue und anständige Frauen zu gewährleisten, weil man kulturell davon ausgeht, dass Frauen mannstoll und sexbesessen sind. Hauptsächlich Frauen, die selber beschnitten sind, initiieren und überwachen die Beschneidung. Aber auch in Ägypten gilt die unbeschnittene Frau in vielen Kreisen als Hure.

Islamische Frauen mögen gezwungenermaßen zu Burkaträgerinnen werden, weil sie Repressalien zu befürchten haben. Im Iran und in anderen islamischen Ländern opponieren und revoltieren sie gegen dies Gebot. Sie wollen sich selbst auch in Würde in der Öffentlichkeit darstellen können. In Afghanistan versuchen ausländische Befreier die Frauen zu unterstützen. Aber viele Burkaträgerinnen wie etwa im Jemen tragen die Burka wie selbstverständlich freiwillig. Die Kultur und Religion haben ihr Selbstverständnis und ihre religiöse Identität so geprägt. Die Fremdgesetzlichkeit ist zur Eigengesetzlichkeit geworden, eine heteronome Autonomie.

Aber das Burkatragen, der vermeintliche Schutz, ist eine Demütigung und Beleidigung für alle Seiten, ein Angriff auf die Würde der Frau und des Mannes. Der Mann muss sich beleidigt und gedemütigt fühlen, dass sein normales, zwischenmenschliches Interesse an einer Frau dermaßen verurteilt wird, er der Böse ist, sogar so weit, dass sich die Frauen seinem Blick entziehen. Die Frauen müssen sich gedemütigt fühlen, dass sie sich für ihr Aussehen und ihren Anblick schämen müssen und, sollten sie nicht die Burka tragen, zur Hure abgestempelt werden. Dann tragen sie lieber freiwillig die Burka.

In islamischen Ländern ist sexueller Missbrauch innerhalb der Familien weit verbreitet. Meist missbrauchen Väter und Brüder ihre Töchter und Schwestern. Diesen sind die Mädchen und jungen Frauen in demütigender Weise hilflos ausgeliefert. Ähnlich wie in unserer Kultur wird sexueller Missbrauch in den Familien nach außen projiziert und vor dem bösen schwarzen Mann gewarnt. Beim Burkatragen werden die Demütigung, die Ohnmacht und die innerfamiliären Konflikte also nach außen getragen. Der mangelnde Schutz innerhalb der Familie wird zum Schutz in der Außenwelt und dort am falschen Platz abgewehrt.

In ihrer Jugend missbrauchte Frauen tragen ihre eigene Selbstentwertung und gleichzeitig ein miserables, entwertetes Männerbild in sich. Aufgrund ihrer Grunderfahrungen sehen sie auch außerhalb eher die bösen Männer, vor denen sie sich schützen zu müssen glauben. Sie werden sich auch innerhalb der Familie wohl kaum offen ihren Männern gegenüber zeigen oder zwischen Scham und Erlaubnis hin und her schwanken. Als missbrauchte Frauen nehmen sie sich selbst als wertlos und unattraktiv wahr. Insofern wird die Burka ein willkommener Schutz vor den Blicken sein, vordergründig und als Illusion, denn die anderen erwähnten Faktoren sind durchaus noch vorhanden.

Als Mütter haben die Frauen im Islam infolge der Geschlechtertrennung alleinige Macht und Prägekraft für ihre Kinder und sind auch für ihre Männer, in denen noch der Respekt und die Angst vor der Macht der Mütter herrscht und steckt, als Liebes- und Sexualobjekt unantastbar. Die Ohnmacht gegenüber der Mutter wandelt der Mann in eine Macht über die Frauen um. Der Widerspruch in den Ehen zwischen Unantastbarkeit und Recht auf Beischlaf wird wohl oft genug durch Vergewaltigung gelöst. Oder Männer, die bei ihren Frauen selten Erotik und Sexualität genießen können, müssen sich woanders hin wenden, nämlich an ihre Töchter, die auch wesentlich attraktiver als ihre sich oft zu Matronen entwickelnden Frauen sind. Dadurch schließt sich der Kreislauf des sexuellen Missbrauchs.

Außerdem ist etwas, was im privaten Raum wenig zu genießen ist, auch nicht dem Blick von Männern im öffentlichen Raum gegönnt. Insofern werden auch Männer hinter dem Burkatragen stehen, und die Verführung ist groß, ihre Frauen und Töchter ausschließlich für sich zu haben. Da der offene Anblick von Frauen, innerfamiliär und außerfamiliär ein Schleier herrscht, ihnen wenig Raum von Phantasien gegönnt wird, ist Pornographie im Islam noch weiter verbreitet als bei uns. Tief zu bedauern sind die Burkaträgerinnen, dass ihnen nicht wie bei uns die Chance zur Kompensation und Korrektur der inneren Welt in der äußeren Welt geboten wird. Sie müssen im Kreislauf des Bösen verharren, gegen das wiederum eine religiöse Kultur der Heiligkeit gesetzt wird. Deswegen hält sich diese Kultur auch so hartnäckig. In Ländern, wo die Burka verbreitet ist, ist besonders häufiger sexueller Missbrauch anzunehmen. Da darüber aber ein Tabu und Schweigen herrscht, sind Daten kaum zu erheben.

Im Folgenden führe ich einige Aspekte an, in denen sich Parallelen zur islamischen Kultur finden.

In früheren Zeiten galten bei uns Mägde und Dienstmädchen als Freiwild der Herrschaft. Diese betrachtete sie sozusagen als ihr Eigentum zur freien Verfügung, siehe Goethes Gretchen. Frühere Zeiten können verschwinden, aber auch in milder oder krasser Form Wiederauferstehung feiern. Vielleicht sehen deswegen manche Vorgesetzte in ihren Untergebenen ihre Rechte.

Wenn ich mit meinem Hund joggen ging und dieser munter bellend herum sprang, habe ich mehrfach gesehen, dass Frauen lächelnd und wohlgefällig dem Hund nachschauten. Blickten sie mich an, vor allem bei jungen Frauen, erstarb das Lächeln. Verbreitete Gedanken von Frauen kennend dachte ich, sie dachten, ich solle ja nicht denken, dass sie etwas von mir wollen. Mehrfach haben mir Frauen diese, ihre, Gedanken bestätigt. Das Anlächeln von Frauen wird oft von Männern als Zeichen von Interesse gedeutet, was es ja auch öfter ist, genauso umgekehrt, und dann macht der Mann, oft entsprechend seiner Rolle, die Frau an. Entsprechend unserer Rollenverteilung ist das Umgekehrte seltener. Vielleicht fürchtet die Frau, dass der Mann glaubt, alleine durch das Lächeln Anrechte zu erwerben.

Auch bei uns gibt es kulturell eine Spaltung in Nonnen und Huren. Die Burka wirkt wie die Gewänder der Nonnen, nur noch verschlossener. Die Nonnen entziehen sich ebenfalls der Begegnung mit den Männern und weihen sich einem höheren Mann, woher sie ihre Heiligkeit und Unberührbarkeit beziehen. Der Gang zu den Huren ist in allen Kulturen, auch bei uns, weit verbreitet, vielleicht deswegen, weil das Christentum noch prägend ist und in diesem die Jungfrau Maria als Mutter eine der höchsten Symbolfiguren darstellt. Im mediterranen Kulturraum werden junge attraktive Frauen später als Mütter zu Matronen. Auch bei uns verlieren viele Frauen in der Alterung ihre Attraktivität, in einem Maße, wie es eigentlich nicht notwendig wäre. Als Gegensatz herrscht ein Jugend- und Schönheitskult, wodurch reifere Frauen ihre Reife nicht mehr selbstbewusst nach außen tragen können und in Selbstwertkonflikte geraten. Aber gerade der Schönheitskult weist auf das Gegenteil hin.

In einem Nebensatz eines Buches von Gabriel Garcia Marquez war von der Jungfräulichkeit in der bürgerlichen Ehe die Rede, wodurch ich auf die Idee kam, „das ist ja nicht nur in Südamerika, sondern auch bei uns!“, nicht nur Märchen und Mythen, sondern auch die Religion als Mythos auf unseren Alltag anzuwenden und zu übersetzen. Dazu habe ich im Weltexpress einige Artikel geschrieben.

Wir haben also auch unsere Burka – in verdeckterer Form. Vielleicht deswegen, weil wir vieles aus einer anderen Kultur in uns wieder finden, verschiedene Kulturen viele Gemeinsamkeiten haben, das das öffentliche und private Miteinander erheblich beeinträchtigt und unsere Aggressionen und Verachtung hervorruft, wurde die Burkaträgerin in Frankreich so verächtlich angegriffen. Die Projektion ist allgegenwärtig. Über die Fremdenfeindlichkeit, die Projektion des Fremden in uns und unserer Angst, Selbstaggression auf andere Symbolfiguren und nach außen, möchte ich mich hier nicht auslassen.

Mir geht es nicht um eine Stellungnahme, wie ich zum Tragen der Burka stehe oder dass ich gar für das Verbot plädiere, eher um eine Darstellung einiger weniger Aspekte eines sehr komplexen Geschehens. Die heteronome Autonomie, die Selbstbestimmung nach verinnerlichten Regeln, Gesetzen, Normen und Tabus, für die früher mal gewichtige Gründe bestanden, die aber in möglichen anderen Verhältnissen als kulturelle Geister ein Eigenleben entfalten und sich dadurch reproduzieren, ist in allen Kulturen weit verbreitet. Auch Burkaträgerinnen verdienen unseren Respekt, sie sind Opfer ihres Systems, für das sie nichts können, wenn sie auch als Trägerinnen es weiter verbreiten – auch wenn es uns noch so schwer fällt.

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