Des Kaisers alte Kleider

Wie ein junger Bulle stürmte er in die Arena. Eine Flut neuer Ideen auf jedem Gebiet, ein Tsunami praktischer Initiativen, um deren Umsetzung in einigen Fällen bereits begonnen wurde. Offensichtlich hatte er über sie schon lange nachgedacht und beabsichtigte, sie vom ersten Augenblick im Amt in die Praxis umzusetzen. Er hatte sein Team schon lange im voraus zusammengestellt, und seine Leute begannen zu handeln, bevor er seinen triumphalen Einzug in das Weiße Haus hielt. Während seiner ersten Tage ernannte er die Minister, von denen er die meisten schon lange im voraus bestimmt hatte. Dies scheint ein effektives Kabinett zu sein, dessen Mitglieder ihren Aufgaben gewachsen sind.

Dies folgt einer Regel, die seit langem gültig ist: was ein neuer Präsident nicht in den ersten hundert Tagen initiiert, wird er auch später nicht erfüllen. Am Anfang ist alles leichter, weil die Öffentlichkeit für einen Wandel bereit ist.

Ein Israeli kann natürlich nicht der Versuchung widerstehen, Obama mit Binyamin Netanyahu, unserm alt-neuen Ministerpräsidenten, zu vergleichen, der nicht geradezu in die Arena stürmte. Er kroch hinein.

Man könnte erwartet haben, dass Netanyahu in dieser Hinsicht sogar Obama übertrumpfen würde.

Schließlich ist er schon da gewesen. Vor zehn Jahren saß er auf dem Stuhl des Ministerpräsidenten und sammelte Erfahrungen. Und aus Erfahrungen – besonders aus schlechten – kann, ja sollte man lernen.

Außerdem war Netanyahus Sieg keine Überraschung. Der einzige unerwartete Teil der Wahlergebnisse war, dass seine Opponentin, Zipi Livni, einige Stimmen mehr gewann. Doch das war nicht genug, ihn daran zu hindern – zusammen mit seinen Partnern – eine Mehrheit zu erlangen.

Deshalb hatte er eine Menge Zeit, seinen Aufstieg zur Macht vorzubereiten, Experten zu befragen, Pläne auf jedem Gebiet vorzubereiten, sein Team zu wählen, über die Ernennung von Ministern aus seiner eigenen und den mit ihm verbündeten Parteien nachzudenken.

Doch unglaublicherweise scheint es, dass nichts davon – wirklich nichts – von alledem geschah. Keine Pläne, keine Berater, kein Team, rein gar nichts.

Bis zum heutigen Tag ist es Netanyahu nicht gelungen, sein persönliches Team zusammen zu stellen – eine grundlegende Vorbedingung für jede effektive Handlung. Er hat nicht einmal einen Stabschef, eine sehr wichtige Position. In seinem Amtssitz herrscht äußerstes Chaos vor.

Die Ministerwahl wurde zu einer einzigen Abfolge von Skandalen. Nicht nur, dass er ein fürchterlich aufgedunsenes Kabinett zusammenstellte (39 Minister und stellvertretende Minister, von denen die meisten nur protzige, fiktive Titel tragen); er setzte in fast alle wichtigen Ministerien total ungeeignete Leute ein.

Zur Zeit einer weltweiten Wirtschaftskrise ernannte er einen Finanzminister, der keine Ahnung von Wirtschaft hat. Anscheinend dachte er, dass er selbst das Finanzministerium managt – ganz unmöglich für einen Mann, der für den Staat als Ganzes verantwortlich ist. Ins Gesundheitsministerium setzte er einen orthodoxen Rabbiner als stellvertretenden Minister. Mitten in einer weltweiten Epidemie haben wir keinen Gesundheitsminister – und nach dem Gesetz muss der Ministerpräsident auch diese Funktion ausüben. In fast allen anderen Ministerien – vom Transport- bis zum Tourismusministerium – sind Amtsinhaber, die nichts über ihr Verantwortungsgebiet wissen und nicht einmal vorgeben, daran interessiert zu sein – sie warten nur auf die Gelegenheit, aufzusteigen und bessere Ämter zu bekommen.

Es ist nicht nötig, viel Worte über die Ernennung von Avigdor Lieberman als Außenminister zu verschwenden. Der professionelle Skandalprovokateur produziert täglich einen neuen Skandal im sensibelsten Bereich der Regierung. Dem Bullen im Porzellanladen ist es bereits gelungen, alle Diplomaten in kleine Bullen zu verwandeln, die herumrennen und alles Porzellan in ihrer Nähe zerschlagen. Im Augenblick sind sie eifrig dabei, Israels Beziehungen zu der EU durch einander zu bringen.

All diese Ernennungen sehen wie die verzweifelte Bemühung eines zynischen Politikers aus, der sich um gar nichts weiter kümmert, als wieder an die Macht zu kommen und dann schnell ein Kabinett zusammen zu stellen, egal wie seine Zusammensetzung ist, der bereit ist, jeder Partei jeden Preis zu zahlen, um sie dazu zu bewegen, sich ihm anzuschließen; dabei opfert er sogar die lebenswichtigsten Interessen des Staates.

Auch was die Planung betrifft, ähnelt Netanyahu Obama nicht. Er kam ohne irgend welche Pläne auf irgendeinem Gebiet zur Macht. Man gewinnt den Eindruck, dass er Jahre in der Opposition verbrachte, während sein Kopf Winterschlaf hielt.

Vor einer Woche präsentierte er einen grandiosen „wirtschaftlichen Plan“, um unsere Wirtschaft vor den Verheerungen der Weltwirtschaftkrise zu retten. Wirtschaftwissenschaftler runzelten die Stirn. Der ’Plan’ besteht aus nichts als aus einer Sammlung müder, alter Slogans und einer Steuer auf Zigaretten. Seine verlegenen Assistenten stotterten, dass dies nur ein ’allgemeiner Grundriss“ sei und noch nicht ein Plan, und dass sie jetzt an einem wirklichen Plan arbeiteten.

Die Öffentlichkeit regt sich nicht wirklich über das Fehlen eines Wirtschaftsplanes auf. Sie glaubt an Improvisation, das wunderbare israelische Talent, das die Unfähigkeit, etwas zu planen, deutlich macht.

Aber auf dem politischen Feld ist die Situation sogar noch schlimmer. Weil dort das Unvorbereitetsein Netanyahus auf das Übervorbereitetsein Obamas trifft.

Obama hat einen Plan für den Wiederaufbau des Nahen Ostens, und eines seiner Elemente ist ein israelisch-palästinensischer Frieden, der sich auf dem Prinzip „Zwei Staaten für zwei Völker“ gründet. Netanyahu behauptet, dass er nicht in der Lage sei, darauf zu antworten, weil er noch keinen Plan hat. Schließlich sei er ja ganz neu im Amt. Nun arbeitet er an solch einem Plan. Sehr bald, in einer Woche oder in einem Monat oder in einem Jahr wird er einen Plan, einen wirklichen Plan, fertig haben und ihn Obama vorlegen.

Natürlich hat Netanyahu einen Plan. Er besteht aus einem Wort, das er von seinem Mentor Yitzhak Shamir gelernt hat: ’Nein!’ oder noch genauer: das ’Nein, Nein, Nein!’ des israelischen Khartum: oder ’Frieden: nein! Rückzug: nein! Verhandlungen: nein!’ Man erinnere sich, dass auf der arabischen Gipfelkonferenz von 1967 in Khartum, direkt nach dem Sechstagekrieg, eine ähnliche Resolution verabschiedet wurde).

Der Plan, an dem er gerade arbeitet, betrifft nicht wirklich das Wesentliche dieser Politik, sondern nur seine Verpackung. Wie soll man Obama etwas präsentieren, das nicht einfach wie ’Nein’ klingt, sondern eher wie ’Ja, aber’. Etwas, das alle Leibeigenen der Israel-Lobby im Kongress und den Medien schmerzlos schlucken können.

Als Vorgeschmack für den ’Plan’, hat Netanyahu schon einen seiner Bestandteile vorgelegt: die Forderung, dass die Palästinenser und die anderen Araber Israel als ’den Staat des jüdischen Volkes’ anerkennen müssen.

Die meisten Medien in Israel und im Ausland haben diese Forderung verdreht und berichtet, dass Netanyahu die Anerkennung Israels als eines ’jüdischen Staates’ verlange. Entweder aus Ignoranz oder aus Faulheit haben sie den bedeutenden Unterschied zwischen den beiden Formeln verwischt.

Der Unterschied ist nämlich immens. Ein ’jüdischer Staat’ ist eine Sache, ein ’Staat für das jüdische Volk’ etwas radikal anderes.

Unter einem ’jüdischen Staat’ kann man einen Staat verstehen, in dem die Mehrheit der Bürger sich selbst als Juden definieren und/ oder dessen Hauptsprache Hebräisch ist, dessen Hauptkultur jüdisch ist, dessen wöchentlicher Ruhetag der Samstag ist, der in der Knesset-Cafeteria nur koschere Speisen anbietet etc.

Ein ’Staat des jüdischen Volkes’ ist eine vollkommen andere Geschichte. Es bedeutet, dass der Staat nicht nur seinen Bürgern gehört, sondern zu etwas, das sich ’das jüdische Volk’ nennt, etwas, das innerhalb und außerhalb des Landes existiert. Das kann weitreichende Implikationen mit sich bringen. Zum Beispiel: die Ungültigkeitserklärung der israelischen Staatsbürgerschaft aller Nicht-Juden , so wie es Lieberman vorgeschlagen hat. Oder die Verleihung der israelischen Staatbürgerschaft an alle Juden in aller Welt.

Die erste Frage, die auftaucht, ist die: ’Was bedeutet ’das jüdische Volk’? Der Terminus ’Volk’ – ’am’ im Hebräischen, ’people’ im Englischen – hat keine akzeptierte genaue Definition. Im allgemeinen meint man damit eine Gruppe von Menschen, die in einem bestimmten Gebiet leben und eine bestimmte Sprache sprechen. Das ’jüdische Volk’ ist anders.

Vor zweihundert Jahren war es klar, dass die Juden eine religiöse Gemeinschaft waren, die in der ganzen Welt zerstreut lebten und durch religiösen Glauben und durch religiöse Mythen (darunter der Glauben an eine gemeinsame Abstammung) verbunden waren. Die Zionisten entschlossen sich, diese Selbstwahrnehmung zu ändern. ’Wir sind ein Volk, e i n Volk,’ schrieb Theodor Herzl, der Gründer des Zionismus, auf Deutsch und verwendete das Wort ’Volk’.

Die Idee des ’Staates des jüdischen Volkes’ ist entschieden antizionistisch. Herzl träumte nicht von einer Situation, in der ein jüdischer Staat und eine jüdische Diaspora koexistieren würden. Nach seinem Plan würden alle Juden, die Juden bleiben wollen, in ihren Staat immigrieren. Die Juden, die bevorzugen würden, außerhalb dieses Staates zu leben, würden aufhören, Juden zu sein und in ihren Gastländern aufgehen, also schließlich richtige Deutsche, Briten und Franzosen werden. Es wurde angenommen, dass die Umsetzung der Vision des ’Staatsvisionärs’ (wie er offiziell in Israel bezeichnet wird) die Auflösung der jüdischen Diaspora, also der Juden außerhalb des ’Judenstaates’, mit sich bringen würde.

David Ben Gurion war ebenfalls ein Mitstreiter dieser Vision. Er behauptete, dass ein Jude, der nicht nach Israel immigriere, kein Zionist sei und auch keine Rechte in Israel erhalte – außer dem Recht, dorthin zu immigrieren. Er forderte auch die Auflösung der zionistischen Organisation, da er in ihr nur das Gerüst für den Aufbau des Staates sah. Sobald der Staat errichtet sei, so dachte er ganz richtig, solle das Gerüst abgebaut werden.

Netanyahus Forderung, dass die Palästinenser Israel als den Staat des jüdischen Volkes’ anerkennen sollen, ist lächerlich, sogar als eine Taktik, den Frieden zu verhindern.

Ein Staat erkennt einen (anderen) Staat an, nicht seine Ideologie oder sein politisches Regime. Keiner erkennt Saudi Arabien, die Heimat der Pilgerfahrt, als den ’Staat der muslimischen Umma’ an (Umma bedeutet im Arabischen die Gemeinschaft der Gläubigen).

Außerdem würde diese Forderung die Juden in aller Welt in eine unmögliche Position bringen. Wenn die Palästinenser Israel als ’den Staat des jüdischen Volkes’ anerkennen müssten, dann müssten dies alle Regierungen in aller Welt auch tun. Die Vereinigten Staaten zum Beispiel. Das würde heißen, dass die jüdischen US-Bürger Rahm Emmanuel und Davis Axelrod, Obamas engste Berater, offiziell von der Regierung Israels vertreten sind. Dasselbe gilt für die Juden in Russland, Großbritannien und Frankreich.

Selbst wenn Mamoud Abbas überzeugt würde, diese Forderung zu akzeptieren – und deshalb indirekt die Staatsbürgerschaft der 1,5 Millionen Araber in Israel in Zweifel ziehen würde – würde ich dies energisch zurückweisen. Ja, ich würde dies sogar als einen unfreundlichen Akt ansehen.

Der Charakter des Staates Israel muss von den Bürgern Israels entschieden werden, (die verschiedene Meinungen zu dieser Sache haben). Vor dem israelischen Gerichtshof ist ein Antrag von Dutzenden israelischer Patrioten anhängig, denen auch ich angehöre. Dieser verlangt, dass der Staat die ’israelische Nation’ anerkennt. Wir fordern den Gerichtshof auf, die Regierung davon zu instruieren, uns im offiziellen Bevölkerungsregister unter dem Stichwort ’Nation’ als ’Israelis’ einzuschreiben. Die Regierung weist dies hartnäckig zurück und besteht darauf, dass unsere Nation jüdisch sei.

Ich bitte Mahmoud Abbas, Obama und jeden anderen, der kein israelischer Bürger ist, darum, sich nicht in diese innere Debatte einzumischen.

Netanyahu weiß natürlich, dass seine Forderung von niemandem ernst genommen wird. Es ist ganz offensichtlich ein weiterer Sprengkörper, um ernsthafte Friedensgespräche scheitern zu lassen. Wenn er gezwungen ist, sie fallen zu lassen, wird es nicht lange dauern, bevor er mit einem anderen Vorwand kommt.

Um mit Groucho Marx zu sagen: ’Dies ist mein Vorwand. Wenn du ihn nicht magst, gut, ich habe noch eine Menge andere.’

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs und Christoph Glanz übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Der am 02.05.2009 erstellte Beitrag wurde zuerst unter http://www.uri-avnery.de veröffentlicht.

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