Der Schlüssel zur Seele – Tödliche Spiele: Joe Hills neu erschienener Horror-Comic „Locke & Key: Psychospiele“ und dessen Vorgänger „Willkommen in Lovecraft“

Zeichner Robert Rodriguez schuf die kongenialen Bilder zu Hills beeindruckendem Comic-Debüt. Der erste Sammelband „Locke & Key: Willkommen in Lovecraft“ fasst die in den USA in Einzelheften herausgegebene erste Episode der Horror-Saga „Locke & Key“ zusammen. Doch das Grauen wird nicht besiegt, es schläft nur. Die „Psychospiele“ in Hills Fortsetzung wecken es zu neuem Leben

„If I don’t look back
The past can’t find me here

Don’t open that door
To an old memory
I locked it up tight
And threw out the key“

(Loretta Lynn)

Das Durchschreiten einer Tür kann alles verändern in der Welt von „Locke & Key“. An jenem Tag, mit dem die Geschichte in „Locke & Key“ beginnt, dringen der jugendliche Sam Lesser und sein Komplize in das Haus der Lockes ein. Wenig später sind der Komplize und der Vater der Geschwister tot, ihre Mutter und Sam für immer physisch, die Kinder seelisch gezeichnet. Tyler wird verfolgt von der Erinnerung daran, wie er Sam überwältigte, einer noch brutaleren Tat als der Mord des psychopathischen Mitschülers an Tylers Vater. Entsprechend dem Wunsch des toten Vaters ziehen die Lockes in das alte Familienanwesen, welches Hill im fiktiven Ort Lovecraft (und in seinem realen Heimatbundesstaat Maine) ansiedelt. Versunken in ihren eigenen Schmerz beachten die Familienmitglieder Bodes unheimliche Spiele nicht: vom Geist und wieder lebendig Werden, von geheimen Türen und magischen Schlüsseln. Das Grauen können die Lockes nicht aussperren. Es ist mit ihnen nach Keyhouse gezogen, in Gestalt der Erinnerungen und eines düsteren Wesens namens Dodge, welches schon in den Kinderspielen des Vaters auftauchte.

„Yesterday, upon the stair,
I met a man who wasn’t there…
When I came home last night at three
The man was waiting there for me
But when I looked around the hall
I couldn’t see him there at all!“

(Hughes Mearns)

Joe Hill gelingt in „Locke & Key“ mehr, als die konventionellen Requisiten einer Spukgeschichte mit jugendlichen Protagonisten zu kombinieren. Unter der mit Horrorelementen verflochtenen Thrillerhandlung verläuft ein psychologischer Handlungsstrom, in dessen Zentrum die Ablehnung der eigenen Persönlichkeit steht. Tyler quält sich mit Schuldgefühlen, Kinsey versucht durch äußerliche Anpassung so unscheinbar wie möglich zu werden, Bode zieht sich in seine Fantasiewelt zurück. Die Mutter der Geschwister ertränkt ihren Kummer in Alkohol. Der psychopathische Sam erhofft sich von seiner Tat „Ein neues Gesicht und ein neues Zuhause“. Zweimal verspricht Dodge es ihm und hält sein Wort zweimal auf grausige Weise. In Keyhouse lebt die unausgesprochene Verheißung, jemand anderes sein zu können. Die magischen Schlüssel versprechen dessen Realisierung. Geistig gesund sind jene, welche den Wahnsinnigen in ihnen hinter Schloss und Riegel gesperrt halten. Sam Lesser hat ihm aufgeschlossen. Dodge hat ihn womöglich nie eingesperrt. Aus dieser Perspektive sind es die negativen Charaktere, welche den Guten voraus sind. Sie haben Kontakt mit der Schattenseite ihres Ichs, welche die anderen aus dem Verborgenen quält. Die erste der raffinierten Anspielungen, mit der Hill seine Comics spickt, birgt der Titel. „Locke & Key“ erinnert an die englischen Wendung „under lock and key“, hinter Schloss und Riegel. Ihre emotionale Verschlossenheit tragen die Lockes im Namen. Das Familienanwesen nennt sich jedoch nicht „Locke House“, sondern Keyhouse. Das Haus beherbergt nicht die Schlüssel, es ist der Schlüssel, der das Unterbewusstsein der Bewohner öffnet. Wie das bedrohlichste der literarischen Spukhäuser, Shirley Jacksons „Hill House“, entsteht der Spuk aus unterdrückten Gefühlen. Das Haus ist Medium und Katalysator für die Dämonen, welche die Lebenden mitbringen. Dodge ist einer jener Geister der Vergangenheit, welche in „Psychospiele“ die Protagonisten unentrinnbar in ihren Bann ziehen. In sehr menschlicher Gestalt besucht Dodge den alten Schullehrer Mr. Ridgeway und die Sporttrainerin Ellie in ihren Leben, Erinnerungen und Alpträume, bis die drei Faktoren zu einer surrealen Gedankenhölle verschmelzen. Gerade die leisen Töne in „Psychospiele“ sind es, welche das bedrohliche Potential des im ersten Band eher stereotypen Schurken Dodge erhöhen. Seine Handlungen nährt keine willkürliche Bosheit, sondern die unterdrückten Gewaltfantasien und Ängste seiner Freunde. Freunde, zu denen auch Tylor und Kinsey werden.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass Joe Hills voller Name Joseph Hillstrom King ist. Der Joseph, dem sein Vater Stephen seinen Roman „Shining“ widmete. Bedenkt man den starken Einfluss von Kings Werk auf die zeitgenössische Horrorliteratur, fällt auf, wie wenig „Locke & Key“ davon aufweist. Hill lässt den Schrecken nicht aus der gewalttätigen amerikanischen Vergangenheit oder pathologischen Sozialstrukturen erstehen, sondern aus der Kernfamilie. Keyhouse beherbergt mit Dodge den personifizierten Schrecken des Unterbewusstseins. Die Lockes sind daheim im „Un-heimlichen“. Die ästhetischen Anklänge an Genre-Filme sowie die den Autor und seinen Zeichner Robert Rodriguez gemeinsame Liebe zum Comic verleihen „Locke & Key“ den morbiden Charme der klassischen Horror-Comics vergangener Dekaden. „Psychospiele“ lässt ahnen, dass Hill erst begonnen hat, das komplexe Figurenensemble von „Lovecraft“ vorzustellen. Dank eines weiteren der magischen Schlüssel in Lovecraft eröffnet sich Tyler, Kinsey und Bode in erschreckend realer Weise der Blick in die Tiefen ihrer Seele. Die von Zeichner Rodriguez kreierten Bilder vereinen besonders im neuen Band kindliche Fantastik und Psychologie zu bestechender Horror-Unterhaltung. Wie im ersten Band funktioniert die Handlung sowohl als in sich geschlossene Geschichte wie auch als Teil der Comic-Serie, als welcher sie angelegt ist. Wer den teilweise vergriffenen ersten Sammelband versäumt hat, kann ohne Einstiegsschwierigkeiten mit dem zweiten beginnen, um später die düsteren Geheimnisse der Vergangenheit zu ergründen. Die unheimlichsten von ihnen scheint Hill sich für das Finale aufzuheben. Der für November geplante dritte Band „Locke & Key: Schattenkrone“ bringt die Charaktere dem Ende ein Stückchen näher.

Titel: Locke & Key – Willkommen in Lovecraft/ Autor: Joe Hill/ Zeichner: Robert Rodriguez/ Verlag: Panini/ 160 Seiten

Titel: Locke & Key – Psychospiele/ Autor: Joe Hill/ Zeichner: Robert Rodriguez/ Verlag: Panini/ 164 Seiten

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