»Der letzte europäische Urwald« – Roger Willemsen präsentierte im Kammermusiksaal der Philharmonie eine Alpine Utopie aus der Schweiz

Zwar sollte es laut Programm um »Global Yodeling und Urban Brass – Unterwegs in den alpinen Landschaften Europas« gehen – und bei der Schweiz war es hier nur der deutschsprachige Teil –aber aus der Vielfalt musikalischer und regionaler Kulturen kann und muß eine Auswahl getroffen werden. Des Staunens über das Vorgeführte war kein Ende. Die Alpen sind für Deutschland etwas Marginales, sagt Willemsen, doch in der Schweiz und in Österreich sind sie ein Teil ihrer Identität. Hier wuchsen naturgegeben genuine Kulturen – sie sind »der letzte europäische Urwald.« Um die Wiederentdeckung, Erhaltung und dialektische Aneignung dieser Kultur bemühen seit den 90er Jahren junge aufgeschlossene Musiker. Der Ethnologe Johannes Rühl aus Freiburg im Breisgau sieht in den Alpen ein volksmusikalisches Klanglabor. Die innovative Beschäftigung jener »Aktivisten« mit der Schweizer Volksmusik kulminierte in  der Neuen Schweizer Volksmusik, kristallisiert besonders im Festival »Alpentöne« in Altdorf im Kanton Uri. Die Erneuerer grenzen sich bewusst ab zum Musikantenstadl und zum slowenischen Skifahrer Slavko Avsenik, »von dem wir alle kontaminiert sind«, wie sich Willemsen ausdrückt. Auch deswegen sei die Schweiz präformiert durch die Dummheit der Klischees.
Die Wiederaneignung der Schweizer Volksmusik ist auch dringend notwendig, weil die Entwicklung der Technologie und der industriellen Landwirtschaft ihre ökonomische und instrumentelle Basis völlig deformierte. Solange die Kühe noch auf die Alm getrieben wurden, war das Alphorn ein unentbehrliches Organ für Signale, Verständigung oder Hilferufe. Seit die Kühe im Stall gehalten werden, starb das Alphorn – ein nationales Schweizer Symbol – fast aus. Streichinstrumente gehörten zur Schweizer Volksmusik wie in vielen Kulturen. Seit der industriellen Herstellung des Akkordeons sind sie aus der Musik der Dörfer, die zu Familienfesten, Begräbnissen und Prozessionen gespielt wurde und wird, verdrängt worden. Sie werden jetzt von Archäologen gesucht. Mit dem Verschwinden der traditionellen Instrumente stieg die Volksmusik in die Städte herab. Langsam kehrt sich der Trend um.

Der Fundus ist gewaltig. 12 000 Volksmelodien liegen in der Sammlung Hanny Christen. Instrumente wie Alphorn, Wippkordeon, Schwyzerörgli, Hackbrett, Drehleier, Maultrommel, Zither, Geigen und andere werden vermehrt ausprobiert und gespielt. Jodellieder werden gesammelt. Die Neuerer der Volksmusik bringen viele eigene Traditionen und musikalische Erfahrungen mit. Mit einigen Größen der Szene stellte der Stimmakrobat Christian Zehnder aus Basel ein Programm zusammen, das die Zuschauer im Kammermusiksaal verblüffte (unbekanntes Nachbarland!) und animierte. Anton Bruhin produzierte sich mit der elektromagnetischen Maultrommel Trümpi, Albin Brun mit Schwyzerörgli und Saxophon, Marc Unternährer mit der Tuba, der Österreicher Matthias Loibner mit der Drehleier und der Russe Arkadij Shilklober mit dem Alphorn. Die Sängerin Nadja Räss bot ein großes Repertoire an Jodlern und Jodelliedern, zum Teil selbst gesammelt. Christian Zehnder selbst brilliierte mit Obertongesang, Jodlern und mit dem Spiel des Wippkordeons, vom Klagelied bis zum Protestsong. Unvergleichlich war seine Interpretation des Liedes »Die Krähe« aus der Winterreise von Franz Schubert. Lustig sein Dialog mit dem Alphorn.

Eine hübsche Idee war ein Streichquartett von Schweizer Musikern der Berliner Philharmoniker, Aline Champion (Violine), Christophe Horak (Violine), Madeleine Carruzzo (Viola) und David Riniker (Viloncello), verstärkt durch den Kontrabass des Finnen Janne Saksala, die den »Gesang« von Nadja Räss und Christian Zehnder und das Alphorn von Shilkloper begleiteten. Zu Nadja Räss ´Jodlern Zuschauerchöre zu mobilisieren, war nicht schwer.

Schleierhaft ist der von Willemsen  betonte spirituelle Kontext der Volksmusik. Irrational wäre er sowieso. Die hier gespielte Volksmusik stimmte fröhlich, abgesehen von vermeidbaren Längen. Unklar blieb das »Global Yodeling«. In den (deutschsprachigen) Alpen? Dass Jodeln und Obertongesang in der Kultur vieler Länder verwurzelt ist, macht sie noch nicht global. Globalisierung ist heute das Synonym für globale Ausbeutung. Sprach-Mode kann auch entstellen. Eine Nummer kleiner zählte das Jodeln auch.

Am 28.Januar wartet Willemsen erneut auf mit afro-peruanischer Musik aus den Anden und am 23.April mit Beschwörungsritualen in Osteuropa.

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