Es sind Szene wie diese, rare, doch hintergründige Momente, welche „Family Tree“ trotz seiner inszenatorischen Schwächen sehenswert machen. Schwermütig bis zur Schwerfälligkeit ist das Porträt einer Familie, deren Verhältnis zueinander tiefe Risse durchziehen. Jedes der Familienmitglieder trägt Narben auf der Seele. Es sind Spuren psychischer Verletzungen, die weiterhin leicht aufbrechen. Einige haben sie sich gegenseitig zugefügt, andere sind Zeichen vergangener Erlebnisse. Es ist der Tod, welche den Baumgärtner Frederick (Guy Marchard) und seine Frau Marianne (Francoise Fabian) mit ihren erwachsenen Kindern und deren Familien zusammenführt. Nicht nur der tragische Anlass verdüstert die Stimmung auf der Trauerfeier. Frederick blieb der Beerdigung seines Sohnes fern. Seine Tochter Delphine (Sabrina Seyvecou) auf das Verhalten ihres Vaters mit stummen Vorwürfen, ihr Bruder ergibt sich immer mehr dem Alkoholismus. Unterschwellige Konflikte haben die Familienstruktur morsch gemacht. Das Unausgesprochene lastet wie der trübe Himmel über den Protagonisten. Es scheint, als hätte Fredericks Lebenslüge Wurzeln geschlagen und sich in Form der emotionalen Verdrängung auf die Leben seiner Kinder übertragen. Was für die Eltern unaussprechlich war, ist für die Kinder unvorstellbar geworden. Konfrontiert mit dem Tod eines dieser Kinder, beschließt der Baumgärtner über ein lange gehütetes Tabu zu sprechen.
Überzeugend ist „Family Tree“, wenn er sich ganz auf das konzentrierte Spiel seines Hauptdarsteller Marchard konzentriert. Nicht sein verstorbene Sohn oder der Umgang der Familie mit dessen Tod stehen im Zentrum der Handlung. „Le abre et la foret“ betitelte das Regie-Duo Martineau und Ducastel sein gemächliches Drama im Original, „Der Baum und der Wald“. Es geht um das Individuum im Verhältnis zu seinem Umfeld, den einzelnen als Teil eines größeren Ganzen. Hat man dies akzeptiert und sich von der durch den irreführenden englischen Titel „Family Tree“ geweckten Erwartung einer filmischen Familienchronik distanziert, fällt es leichter, sich auf die komplexe Persönlichkeitsstudie einzulassen, um die der Film sich bemüht. Zentrale Figur des Dramas ist der gealterte Patriarch Frederick und dessen durch eine Jahrzehnte überdauernde Lüge geprägtes Verhältnis zu seiner Frau Marianne und den erwachsenen Kindern. Einmal ausgesprochen, scheint jenes Geheimnis fast ernüchternd. Zu seiner erdrückenden Größe ist es gewachsen, weil Frederick es gleich seinen Bäumen über Jahrzehnte hegte. Mehr als Täter ist der alte Mann Opfer seiner Selbstverleugnung, zu der ihn äußere Zwänge nötigten. „Am Ende wird er umstürzen und den alten Mann unter sich begraben.“, heißt es über den alten Baum vor Fredericks Haus. „Das habt ihr dann von eurer Sentimentalität.“
Auch das Drama droht durch sentimentale Misstöne und Langatmigkeit erschlagen zu werden. Zu oft bemühen die Regisseure zu wagnerischen Klängen die Bilder des Herbstwaldes, zu überfrachtet sind die gequälten Dialoge. „Das ist nur Psycho-Gequatsche.“, drückt es Delphine aus:„Ich sollte traurig sein, aber ich fühle nichts.“ Ausgerechnet dem seichtesten aller Charaktere, ist der verschlossene Frederick zugetan: „Ein Junge, der die Bäume liebt, muss ein guter Mensch sein.“ Die überdeutliche Affinität zu Bäumen in „Family Tree“ garantiert jedoch keinen ergreifenden Film.
Titel: Le abre et la foret – Family Tree
Berlinale Panorama
Land/Jahr: Frankreich 2009
Genre: Drama
Regie und Drehbuch: Olivier Ducastel, Jaques Martineau
Darsteller: Guy Marchard, Francoise Fabian, Sabrina Seyvecou, Yannick Renier, Francois Negret
Laufzeit: 105 Minuten
Bewertung: **