Regisseur Bastian Kraft lässt Claire Zachanassian, ehemals Klara Wäscher, wie eine Hydra, in fünffacher Gestalt in Erscheinung treten. Fünf SchauspielerInnen unterschiedlichen Typs, unterschiedlichen Alters und sogar verschiedenen Geschlechts, repräsentieren die facettenreiche Persönlichkeit der mehrfachen Milliardärin, die gekommen ist, um sich Gerechtigkeit zu kaufen. Alle fünf Claires tragen grellrote Perücken, von denen jede ein bisschen anders frisiert ist als die andere, wie auch die schwarz-weißen Glitzerkleider, mit denen Kostümbildnerin Dagmar Bald die AkteurInnen ausgestattet hat, auf den Charakter ihrer jeweiligen Trägerin zugeschnitten sind.
Margit Bendokat ist militant, jedes Wort von ihr ist ein Befehl oder eine Drohung, Olivia Gräser, bezaubernd jung und verführerisch, Katharina Matz naiv aber auch unerbittlich, Helmut Mooshammer komisch verrucht, und Barbara Schnitzler gibt die raffinierte Grande Dame.
Manchmal hüllen die Damen sich hexenhaft in schwarze Gewänder mit spitzen Kapuzen, und sie verwandeln sich auch in die Honoratioren der Stadt Güllen, indem sie den Aufstellfiguren des Pfarrers, des Lehrers, des Bürgermeisters und des Polizisten ihre Gesichter verleihen oder sich mit deren Accessoires versehen.
Die Bühnenbilder von Simeon Meier wirken wie Scherenschnitte mit gezackten, expressionistischen Formen, die sich, ineinander verzahnt und einander überlagernd, vom Schnürboden herabsenken. Ills Laden, der Schreibtisch des Bürgermeisters oder die Sänfte von Claire Zachanassian sind wie aus Bastelbögen aus Pappe zusammengesteckt. Eine eindimensionale Welt in schwarz-weiß, in der sich, mit der wachsenden Aussicht auf Wohlstand, zunehmend glitzerndes Rot ausbreitet.
Wie im Stummfilm werden handschriftliche Informationen eingeblendet. Passend dazu begleitet Thies Mynther, in der Loge platziert, die Vorstellung stimmungs- und spannungsfördernd am Piano. Thies Mynter hat auch die Songs von Lady Gaga wirkungsvoll arrangiert, die von den Claires vorgetragen werden, und in denen sie ihren Zorn und ihre Sehnsüchte zum Ausdruck bringen oder auch hinreißend komisch sind.
Friedrich Dürrenmatts Parabel über die Macht des Geldes wird meistens im Hinblick auf die BewohnerInnen der Kleinstadt Güllen interpretiert, die, nach anfänglichem Widerstreben, bereit sind, für eine Milliarde einen Mord zu begehen. Die Anklage gegen Alfred Ill wegen längst vergessener Jugendsünden erscheint lächerlich. Ill ist das unschuldige Opfer hemmungsloser Geldgier. Mitgefühl mit Claire Zachanassian will ohnehin nicht aufkommen. Allein ihr unermesslicher Reichtum macht sie eher beneidenswert. Zudem ist sie, wie manche Menschen, die in ihrer Kindheit oder Jugend Opfer von Gewalt wurden, zu einer menschenverachtenden Person geworden.
Dadurch, dass Bastian Kraft den Claires auch die Rollen der Güllener übertragen hat, steht in seiner Inszenierung die Begegnung zwischen Claire und Ill deutlich im Zentrum. Zu Beginn ist eine Projektion des Gesichts von Ulrich Mathes, der Alfred Ill spielt, zu sehen. Es scheint so, als erinnere Ill sich ganz plötzlich an Klara Wäscher und frage sich, was wohl aus ihr geworden sein könne.
Den schönen Erinnerungen an eine leidenschaftliche Liebe folgt etwas Unangenehmes, womit Alfred sich lieber nicht auseinandersetzen möchte. „Alles längst verjährt“, sagt Ulrich Matthes launig, aber so leicht kann er die Schatten der Vergangenheit nicht verjagen.
Während die Güllener, in Erwartung des Geldsegens, auf Kredit einkaufen und sich damit beruhigen, dass ihre Klara ihnen die Milliarde schließlich ohne Gegenleistung schenken werde, besuchen Claire und Alfred die Stätten ihrer einstigen Liebe. Die rechte romantische Stimmung will dabei nicht aufkommen, denn obwohl Alfred das von Claire über ihn verhängte Todesurteil noch für einen Scherz hält, fürchtet er sich doch vor ihr, und er bemerkt, dass seine Mitbürger, und sogar seine Familie, sich mehr und mehr von ihm distanzieren.
Siegesgewiss thront Claire auf dem Balkon des Hotels und wartet auf die Erfüllung ihrer Forderung. Die Güllener basteln sich Formulierungen zurecht, mit denen sie Alfred als Verbrecher brandmarken und die Höchststrafe für ihn begründen können. Am schwersten tut sich der Schulmeister damit. Wundervoll skurril gestaltet Katharina Matz dieses brave Männlein, das seine Verzweiflung angesichts des drohenden Unheils in Alkohol ertränkt, aufbegehrend die Presse informieren will und schließlich doch den entscheidenden Geistesblitz hat, mit dem sich Unrecht in Gerechtigkeit verwandeln lässt.
In seinem abgetragenen grauen Anzug mit grauem T-Shirt bewegt sich Alfred Ill wie ein Schlafwandler unter seinen hektischen MitbürgerInnen. Er durchläuft eine Phase von Todesangst, versucht vergeblich zu fliehen ohne die Dämonen in seinem Kopf abschütteln zu können und ergibt sich schließlich in sein Schicksal, wenn er sagt: „Ich bin an allem schuld.“
Tatsächlich war es der junge Alfred Ill, der die Geldgier und Korruption in Gang setzte, die nun so ungeheuerliche Dimensionen erreicht hat. Er trennte sich von der schwangeren Klara, um die Krämerstochter Mathilde zu heiraten und in den Besitz des Ladens ihres Vaters zu kommen. Als Klara eine Vaterschaftsklage gegen ihn anstrengte, hat Ill zwei junge Männer mit einer Flasche Schnaps bestochen, damit sie vor Gericht aussagten, sie hätten mit Klara geschlafen und dies mit einem Meineid bekräftigten.
In den Fünfzigerjahren sollten junge Männer sich „die Hörner abstoßen“, aber die jungen Frauen, mit denen sie das taten, wurden als verkommene Subjekte gebrandmarkt. Ein uneheliches Kind war eine Schande für die Mutter, aber nicht für den Vater, der, da es noch keine Vaterschaftstests gab, ohnehin oft genug nicht mit Sicherheit festgestellt werden konnte.
Was Alfred Ill seiner Freundin angetan hat, war nicht weniger als ein Todesurteil.
Die fröhliche, lebenshungrige, rebellische Klara hat nicht überlebt. Sie ist zur Ware geworden, die sich selbst gewinnbringend an den Meistbietenden verkauft hat, zunächst in einem Bordell, dann nach der ersten Ehe mit dem Ölmulti Zachanassian, an eine Reihe weiterer Ehemänner.
„Die Welt machte mich zu einer Hure, nun mache ich sie zu einem Bordell“, bellt Margit Bendokat. Claire lässt die spießigen BürgerInnen ihrer Heimatstadt mit ihrer verlogenen Doppelmoral vergnüglich nach ihrer Pfeife tanzen.
An ihrem Alfred will Claire sich nicht rächen. Den einzigen Mann, den sie geliebt hat, will sie haben und für immer behalten. Als Lebender hat er sie verlassen und verraten, aber als Toten kann sie ihn einfach mitnehmen in dem Sarg, den sie mitgebracht hat und ihn auf Capri bestatten in einem Grab mit Blick auf das Meer.
Am Ende setzen die Claires ihre roten Perücken ab und wischen sich die Schminke aus dem Gesicht. Die Show ist zu Ende. Alfred Ill wird lust- und liebevoll zu Tode gewürgt und das verarmte Güllen ist eine wohlhabende Stadt.
Bastian Kraft und sein wunderbares Ensemble haben Dürrenmatts Stück unterhaltsam und provokant auf die Bühne gebracht und sehr subtil die kleinen, ganz alltäglichen Korruptionen herausgearbeitet, aus denen sich manchmal monströse Katastrophen entwickeln.
„Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt hatte am 17.04. Premiere im Deutschen Theater. Nächste Vorstellungen: 29.04. und 06., 11. und 30.05.2014.