Das Maß ist voll, nicht das Boot – Stopp für die Regierungsstümper

Hunderte Flüchtlinge aus Afghanistan, Irak und Syrien kommen täglich auf den griechischen Inseln an. Sie nächtigen in der Regel unter freiem Himmel, rasten und übernachten unter Bäumen, auf Spielplätzen in Hauseingängen (wie hier in Mytilini auf Lesbos). Und sie wollen weiter: Deutschland wird häufig als Ziel genannt. © Münzenberg Medien, Foto: Stefan Pribnow, 2015

Da spricht dann unser Bundesinnenminister, den man in dem vergangenen Jahr kaum öffentlich sehen konnte, von einer gewaltigen Herausforderung für Deutschland. Was immer es sein kann, eines ist dabei sicher. Diese Herausforderung hat der derzeitige Bundesinnenminister in keinem Fall bestanden. Man kommt ins nostalgische Schwärmen, wenn man dabei an Amtsinhaber wie Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder denkt, die sich Aufgaben stellten und nicht von Ihnen hinweggespült wurden. Damit kein falscher Eindruck aufkommt. Es ist die gesamte Bundesregierung, die ihren Aufgaben in diesem Zusammenhang nicht gerecht wird. Da denkt man schon an den alten Industriellen-Spruch: entweder neue Zahlen oder neue Gesichter.

Dabei ist eine Regierung gemeint, die die Probleme angeht. Die Frau Bundeskanzlerin hat über Wochen frische Bergluft geschnuppert, als deutsche Kommunen in die Knie gingen und tausende von Menschen sind ertrunken, als auf europäische Ebene herumgestümpert wurde. Wo ist ihr Wort, wo werden die deutschen Gesetze und die politischen Konzepte überprüft, wo trommelt sie die "Küsschen-hier-und-Küsschen-da"-Europa-Spitzen zusammen?
 
Der britische Premierminister Cameron hat es gut. Zuerst haben er und sein Vorgänger vom Irak über Syrien bis nach Libyen die Länder mit Krieg überzogen, den Menschen Gegenwart und Zukunft genommen, und dann macht er seine Insel dicht. Menschen ohne Recht auf Einreise sind unerwünscht. Er sagt es und die Bilder von den Tunnel-Knackern verschwinden aus den öffentlich-rechtlichen und privaten Medienanstalten.

Von unseren französischen Freunden wollen wir in diesem Zusammenhang kaum reden. Sie lassen von Syrien bis Schwarzafrika zu Lasten der Menschen den französischen Interessen mit Waffengewalt freien Lauf und verhalten sich absolut stickum, wenn es um die auch nur zeitliche Aufnahme fremder Menschen geht. Vermutlich darf die Frau Bundeskanzlerin bei Präsident Obama noch nicht mal nachfragen, wie es mit der Aufnahme von Menschen in den USA steht, deren Lebensgrundlagen von amerikanischen Waffen weltweit, auch zwischen Afghanistan und der südlichen Sahara, vernichtet worden sind. Die Staaten, die durch Angriffskriege Migration verursachen und die Folgen anderen aufbürden, sollten an die gescheiterte Konferenz von Evian vor dem Zweiten Weltkrieg und die schrecklichen Folgen denken. Es muß unter allen Umständen verhindert werden, daß sich die heutige Entwicklung zur Migrationswaffe entwickelt. Heute schon gibt es öffentlich vorgebrachte Hinweise darauf, dass diese Entwicklung ganz oder in Teilen aus angeblich befreundeten Staaten befeuert wird. Wie anders können die Bilder von der griechischen Insel Kos gedeutet werden. Die in die zehntausenden gehende Zahl von Menschen, die an der türkischen Küste darauf warten, nach EU-Europa geschleußt zu werden, haben diese Plätze mit Billigung der türkischen Regierung einnehmen können. Hat irgendjemand vernommen, dass unser vielreisender Herr Außenminister in Ankara deshalb vorstellig geworden ist oder die Frau Bundeskanzlerin den Herrn Präsidenten Erdogan in Ankara aufgesucht hat?
 
Die regierungsamtliche Untätigkeit, die auf europäischer Ebene weiter fortgesetzt wird, läßt Vermutungen zu. Entweder sind die Regierungen völlig unfähig oder es sollen Konzepte an der eigenen Bevölkerung vorbei umgesetzt werden. An den Haaren herbeigezogen? Mitnichten, denn die Meinungshoheit über die NATO-Medien haben längst Gruppen übernommen, die eine selbstgesetzte Agenda haben. Sie nutzen jetzt den Staat, ihre Konzepte umzusetzen. Wo sind die fundierten Stellungnahmen unserer Botschafter, die doch eine eigene Meinung zu den Krisenregionen und damit zu den Somalias und Eritreas dieser Welt haben. Warum wird nicht die Auseinandersetzung mit den Councils mit Eigeninteresse gesucht, wenn die eigene Regierung es begründet besser weiß? Es muß nur noch ein Krieg über die Ukraine ausbrechen und die amerikanische Vorstellung von einem untergehenden Europa dürfte verwirklich werden. Wie anders soll der bewußte Putsch auf Veranlassung von Frau Nuland gegen die europäische Verständigungslösung in Kiev denn bewertet werden?
 
Wenn unsere Regierungen etwas können, dann ist es das abschätzige Urteil über die Menschen, die aus den Balkanstaaten nach Österreich und nach Deutschland kommen? Wer hat denn die Lebensgrundlage mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien für diese Menschen zerstört? Wer kann sich mit den USA nicht darüber verständigen, wie die Konzepte für den Balkan aussehen könnten und dadurch den gesamten Balkan auf Jahrzehnte von jeder prosperierenden Entwicklung abkoppelt? Der jüngste Stunden-Besuch der Frau Bundeskanzlerin in Belgrad hat erneut die europäische Hinhaltetaktik deutlich gemacht. Heiße Luft und europäische Fata Morgana gibt den Menschen zwischen Tirana, Pristina und Nis kein Stück Brot in die Hand. Das soll Europa sein?
 
So wird Verrat an unseren Nachbarn geschrieben. Es ist gut, wenn hohe kirchliche Repräsentanten mal nicht nur an die Mehrung irdischer Dinge in ihren heimischen Sprengel denken, sondern sich mal an Ort und Stelle umsehen. Allerdings ist die Frage erlaubt, warum sie Papst Franziskus in seinem Einsatz gegen die willkürlichen Kriege, die doch die Ursache für diese Entwicklungen sind, aus Deutschland so alleine lassen? Dabei sieht der Mann aus Rom die Dinge doch richtig. Es ist der Westen, kriegsgeil wie lange nicht mehr, der die Welt ins Unglück stürzt und jetzt bei sich selbst anfängt. Es gibt in meiner rheinischen Heimat einen besonders klugen Satz. Danach sollte man keinen "Heiligen anbeten, der keine Wunder tut" Unsere Regierungen sind in diesen Fragen nicht nur unfähig. Sie ziehen auch keine Konsequenzen aus einer offenkundig gescheiterten Politik. Sie stehen gegen die Interessen ihrer eigenen Völker. Warum sind sie noch in ihren Ämtern?
 
Das sind Dinge, die wir selbst zu klären haben und man kann nur hoffen, dass es auf Dauer so etwas wie freie Wahlen gibt. Nichts von dem darf auf dem Rücken der Menschen ausgetragen werden, die aus welchen Gründen auch immer hier sind oder demnächst eintreffen werden. Wir sind verpflichtet, die nationalen Standards und die internationalen Regeln peinlich genau und mit Herz einzuhalten. Es ist gut 25 Jahre her, dass wir unsere Turnhallen und öffentlichen Räume zur Verfügung stellen konnten. Wir sollten aber auch nicht die Augen davor verschließen, dass Zeitgenossen der unterschiedlichsten Provenienz die heutige angestrengte Lage mit einer Bereicherungsmöglichkeit verwechseln. Der Staat ist nicht dazu da, Geld in Kanäle zu schaufeln. Er muß die Dinge in die Hand nehmen, will er die Zustimmung der hier bereits seit Generationen lebenden Menschen behalten.
 
Wenn die noch im Amt befindlichen Regierungen und EU-Repräsentanten die Kriege nicht umgehend beenden und ihre Politik gegenüber den Menschen und Staaten dieser Welt nicht grundlegend ändern, gehen ohnehin die Lichter aus. Man muß nicht daran denken, dass sich die mehr als fünfzig Millionen chinesischer Wanderarbeiter auf den Weg machen, die chinesischen Grenzen zu überqueren, wie es nach 1990 in Sibirien und Russisch-Fernost millionenfach bereits geschehen konnte. Indien dürfte bei Millionenzahlen durchaus mithalten können, wie bereits die anfallenden Migranten aus Pakistan deutlich machen. Denken sollte man daran, daß es deutsche, niederländische und EG-europäische Konzepte gegeben hat, auf die zu erwartende Entwicklung angemessen reagieren zu können.
 
Bis zu dem Augenblick, als die USA anfingen, mit ihrem Konzept der allein verbliebenen Supermacht sich den Globus unter den Nagel zu reißen, wurde daran gearbeitet, unseren Nachbarn im Süden und Südosten mehr als Hoffnungslosigkeit und Tod zu bringen. Die OSZE und die EG sollten zwischen Israel und Marokko auf gleichberechtigte Partnerschaft die Menschen und Staaten ansprechen. Wir wußten, was sonst kommen würde und unsere Regierungen haben das billigend in Kauf genommen und das Scheitern dieser Nachbarschaftspolitik in Kauf genommen, angeblich aus Bündnis-Interesse.

Es war Willy Brandt, der auf diese Dimension in den Nord-Süd-Beziehungen aufmerksam gemacht hatte. Warum schauen wir immer weg, wenn uns was nicht paßt?

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Willy Wimmer
Staatssekretär des Bundesministers der Verteidigung a.D. Von 1994 bis 2000 war Willy Wimmer Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).