Da, wo die Verrückten sind, da gehörst Du hin ”¦ – Berlinale Wettbewerb: Martin Scorsese bringt einen mit „Shutter Island“ leicht um den Verstand

Szene aus dem Martin Scorsese-Film "Shutter Island" mit Ben Kingsley, Mark Ruffalo und Leonardo DiCaprio

Erst einmal folgen wir dem Regisseur, der uns zeigt, wie Teddy – herrlich in der Kluft der Fünfziger, die stark an die Dreißiger erinnern und damit an Phil Marlowe und Genossen – sich auf dem schaukelnden Schiff bei stürmischer See die Seele aus dem Leib kotzt, nicht angenehm, da sein Kollege Chuck Aule (Mark Ruffalo), ihm bisher unbekannt, das als Arbeitseinstieg alles mitbekommt. Bald merkt man auch, daß der Marshall noch andere psychosomatische Probleme hat, ständig hat er Kopfweh, Alpträume, was nicht verwunderlich ist, ist ihm doch durch Brandstiftung seine Frau Dolores (Michelle Williams) ums Leben gekommen, was in surrealen Traumeinschüben der fiesesten Art auch den Zuschauer das Gruseln lehrt. Überhaupt ist das ein Film, der mit allen Mitteln der Kunst das Grauen evoziert, die Angst vor dem Hurrikan, der gleich nach der Ankunft auf der Insel diese überzieht, die Angst vor dem übermächtigen Dr. Cawley (Ben Kinsley), der vorgeblich rational und psychiatrisch modern die Anstalt Ashecliffe-Hospital leitet, die als Hochsicherheitstrakt zu bezeichnen noch untertrieben wäre, die massiv und aus Ziegelstein gebaut, die kriminellen Irren beherbergt, denn damals nannte man sie noch irre, die Menschen die an Geisteskrankheiten leiden, wie heute der Sprachgebrauch lautet.

Es ist die Angst vor der Angst, die aus jeder Szene erwächst und den Zuschauer mitnimmt auf eine paranoide Reise, von der er auch am Schluß nicht weiß, wohin sie geführt hat, ob direkt in die Paranoia oder diese nur als Mittel zum Zweck. Zum Zweck der Vertuschung nämlich, was auf dieser Insel wirklich passiert, vornehmlich im Leuchtturm. Denn da werden – so raunt es auf der Insel – Menschenversuche durch Hirnoperationen durchgeführt, das also, was die Nazis vormachten, weitergetrieben, wobei auch das fachkundige und bewährte Personal vorhanden ist, wie der deutsche Arzt Naehring (Max von Sydow). Wie ernst es Martin Scorsese mit dem Thema ist, kann man den Programminformationen entnehmen, die ausführlich die Entwicklung der Psychiatrie im 20. Jahrhundert untersucht und auf die Schübe aufmerksam macht, die alle Jahrzehnte wieder und jedesmal differenzierter aus dem bisher diagnostizierten Irresein ein Bündel von Geistes- und Gemütskrankheiten machte.

Das ist meisterhaft inszeniert, wie durch Sturm und Personal auch dem Zuschauer die unheimliche Atmosphäre auf der Insel unter die Haut kriecht – auch der Anstaltsfriedhof wird nicht ausgelassen – und er mit Teddy froh ist, wenn dieser mitten im Sturm in einer Höhle an der Küste die gesuchte Rachel (Emily Mortimer) findet, die aber nicht Patientin ist und Mörderin ihrer Kinder, wie sie sagt, sondern eigentlich ledige und kinderlose Ärztin, die mitbekommen hatte, was in der Klinik an menschenverachtenden Versuchen am kranken Menschen getrieben wird und deren Protest man mit Medikamenten zu besänftigen suchte, sie zudem einsperrte und die vor der drohenden Ermordung geflohen ist. Diese Szene ist deshalb so wichtig, weil sie den Zuschauer in Sicherheit wiegt, daß nun der US-Marshall auf dem richtigen Weg ist und die Verschwörung aufklären wird.

Es kommt aber anders. Der Film zeigt den Aufklärer Teddy zunehmend labil und in Situationen, in denen aus seinem bisherigen Kollegen Chuck ein Arzt, ja schlimmer noch, der ihn, d.h. Andrew Laeddis behandelnde Arzt Dr. Sheeban wird. Wie war das am Anfang? Da fragte Teddy noch frechmunter den Anstaltsarzt Dr. Crawley: “Glauben Sie, Irresein ist ansteckend?“ Und schon ist es passiert. Denn das ist die andere Variante, die Scorsese anbietet. Nicht durch Ansteckung, aber durch gezielte Medikamenteneingabe – schließlich hat unser Marshall im Film sehr oft arglos die verabreichten ’Kopfwehtabletten’ geschluckt und durch Speis und Trank alle möglichen Pharmaka aufnehmen können – ist Teddy Daniels verrückt gemacht worden, so daß er jetzt seinen Peinigern alles nachbeten, was diese von ihm hören wollen, daß er nämlich in Personalunion der von Teddy gesuchte Laeddis selber sei, der seine eigene Frau umgebracht hat, nachdem diese umnachtet ihre drei gemeinsamen Kinder ermordete.

Der Regisseur spielt geradezu mit dem Zuschauer, wenn er diese Lesart des Films, besser die Identität des tätigen US-Marshalls gegen die des Kranken ausspielt, denn auch hier sind es – nach den Beschuldigungen durch die Ärzte der Klinik, er, der hier aufklären wolle, sei selber der kriminelle Kranke, – seine inneren Visualisierungen, die dem Zuschauer Realität vorspiegeln, wenn er sich nun in diesen Bildern erinnert, die toten Kinder aufgefunden und seine Frau ermordet zu haben. Für diese Variante sprechen auch die im Film immer wieder eingeblendeten Szenen, die den jungen Teddy als US-Soldaten bei der Befreiung von Dachau zeigen, wo die Leichen haufenweise herumliegen und auch die noch Lebenden eher Skeletten gleichen. Und nun auch noch der Mord an seinen Kindern durch die eigene Ehefrau, die er deswegen ermordet. Ein schwer traumatisierter Mann.

Gerade diese Aufnahmen aus Dachau aber sind es gleichzeitig, die einen widerständig machen dagegen, die Vorkommnisse auf der Insel so zu werten, das sei alles nur Paranoia gewesen. Gerade die vielen Hinweise auf Menschenversuche, die einst absolut grausamen Operationen am Kopf, wo man über Versuche herausbekommen wollte, wie man Gefühlszentren ausschaltet, wo das Sprachbewußtsein zerstört wird, wie sich Bewußtsein manifestiert und wie ich es umdrehe, das alles sind starke Hinweis darauf, daß es den Verschwörern auf der Insel wieder einmal gelungen ist, einen Menschen irre zu machen, der es nicht war, der aber wohl für sie eine Gefahr darstellte. So läßt sich der Film mit guten Gründen in die eine oder die andere Richtung interpretieren. Argumente hat jede und sicher sagt die Lesart, die man wählt – für uns ist es die letztere Variante – auch etwas über die eigene Person und ihre gesellschaftspolitische Ortung aus..

Bleibt ein Letztes. Im Film geht es mit den Menschenversuchen auch um Folter, menschenunwürdige Verhältnisse und Mißbrauch ärztlicher Macht. Die Frage stellt sich, warum Scorsese die gesellschaftliche Situation der Fünfziger braucht, die durch Kalten Krieg geprägt, in den USA tatsächlich eine Paranoia entwickelte gegenüber allem, was angeblich sozialistisch/kommunistisch roch, auch wenn kein anderer diesen Geruch wahrnahm. McCarthy ist dafür nur ein Synonym, das schlimme Folgen hatte. Kann ein amerikanischer Regisseur diese Themen in einer Situation, in der in Amerika nach dem 11. September erneut Verfolgungswahn grassiert, vornehmlich vor Menschen aus ganz bestimmten Ländern, mit einem ganz bestimmten Aussehen und einer ganz bestimmten Religion, nicht an den aktuellen Vorkommnissen der Kriegsereignisse im Irak als traumatische anknüpfen und die Foltermethoden in den Gefangenenlagern direkt aufarbeiten, sondern braucht die Vergangenheit dazu? Hauptsache, der Regisseur Scorsese macht es und bringt die Abgründe, die der Mensch dem Menschen bereitet und diese Menschen verschlingt, vor unsere Augen, damit die Geröllinsel „Shutter Island“ ihre Existenz verliert. Eine Existenzberechtigung hatte sie noch nie.

Titel: Shutter Island

Land/Jahr: USA 2010

Regie: Martin Scorsese

Darsteller: Leonardo DiCaprio, Mark Ruffalo, Ben Kingsley, Michelle Williams, Emily Mortimer, Max von Sydow

Bewertung: * * * *

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