Dantes Inferno am nördlichen Alpenrand? Gerade so, als hätte der bewährte mittelalterliche Hölleneingang ausgedient. Und nun, einem neuen Mythos folgend, an anderer Stelle überraschend die Elemente gewechselt, um auf ungewohnte Weise seine einstigen Schrecken mindestens genauso wirkungsvoll zu verbreiten.
Diesmal nicht mit höllischem Feuer, sondern mit tosenden Wasserwirbeln, die sich in schäumenden Kaskaden über hohe Felsbänke hinweg abwärts stürzen. Und dabei – an den Höllensturz der Verdammten erinnernd – alles mit sich reißen, das bis zu diesem kritischen Zeitpunkt keinen ausreichenden Halt gefunden hat.
Grandioses Naturschauspiel
Sprühende Wasserfontänen tun ihr Übriges, die sich an scharfkantigen Felsformationen brechen. An düsterem mit Moos bewachsenem Gestein, das im Halbdunkel neblig wabernder Wasserschwaden nichts Gutes verheißt. Denn kein Entrinnen ist möglich, solange die Felswände hundert Meter steil nach oben aufragen und durch die obere hauchdünne Abschlussspalte kein Sonnenstrahl mehr seinen Weg hinab in die Tiefe findet. „Ade, du schnöde Welt?“
Doch dann schlägt angesichts dieses grandiosen Naturschauspiels der Schrecken um in Bewunderung und die Furcht in Ehrfurcht. Vor allem gegenüber der sonst friedlich dahin plätschernden Breitach, die sich hier in der Breitachklamm mit unerwarteter Urgewalt immer tiefer in das solide Kalkgestein hinein gesägt hat.
Mächtige Naturkulisse
Natur, so hat es den Anschein, wird in dem „südlichsten Dorf Deutschlands“ großgeschrieben. Denn wer könnte sich dem Reiz der hohen Alpengipfel entziehen, die Oberstdorf als mächtige Naturkulisse einrahmen und mit ihrem prächtigen Erscheinungsbild ausstrahlen bis hinunter ins Tal? In gleichem Maße wächst die Lust, diese stolzen Zweitausender zu bezwingen. Allen voran das Nebelhorn, das – klare Sicht vorausgesetzt – den Blick freigibt auf weitere vierhundert (!) umliegende Gipfel der Nordalpen.
So hat sich Oberstdorf als Ortschaft im Oberallgäu längst auf seine exponierte Lage inmitten der Natur eingestellt. Und gilt, seitdem es den Autoverkehr weitgehend aus der Innenstadt verbannt hat, als richtungsweisend für nachhaltigen Umweltschutz. Mit seiner sprichwörtlichen frischen Luft sowie den schmucken Straßen und Gässchen, die fast ausschließlich den Fußgängern und Fahrradfahrern gehören. Und natürlich der selbstbewussten Kuhherde auf ihrem täglichen Gang zu den nahen Weideplätzen.
Natur auf der Haut
Der Natur verbunden zeigen sich in dieser reizvollen Landschaft natürlich auch die Handwerker und Künstler. Diese können zumeist voller Stolz auf eine lange familiäre Traditionskette verweisen. So wie der Lederhosenmacher Jodok Krumbacher, der sich bereits in der dritten Generation der Lederhosen-Herstellung verpflichtet weiß. Spezialisiert auf die kurze Trachtenlederhose, bestickt mit gelben oder grünen Eichenblättern, zu gehobenen Anlässen stilvoll getragen mit handgestickten Edelweißträgern und weißem Hemd. Und auch auf die Allgäuer Trachtenbundhose aus Hirschleder, die als „Natur auf der Haut“ ebenso wie die kurze Trachtenlederhose mit ihrem strapazierfähigen Material problemlos die Jahrzehnte überdauert.
Aber ein Beruf mit Zukunft? Jodok Krumbacher zögert bei seiner Antwort keinen Augenblick. Denn die Lederhose, davon zeigt er sich überzeugt, ist als Naturprodukt nicht nur beständig, sondern wird auch niemals unmodern. Selbst die Jugend trägt seine handwerklichen Prunkstücke wieder „mit Würde und Stolz“ und gelangt mit dieser alten Tradition, so unglaublich es klingen mag, zu stärkerer gesellschaftlicher Identität. Daher ist es bei der anhaltenden Nachfrage nicht verwunderlich, dass die Bewerber um ein solches hochwertiges Trachtenstück stets eine längere Wartezeit in Kauf nehmen müssen.
Verarbeitung von Naturhölzern
Der Natur verpflichtet weiß sich auch der Holzbildhauer Andreas Ohmayer. Als Kunsthandwerker, so erklärt er in seiner geschmackvoll eingerichteten Galerie, hat er sich der künstlerischen Verarbeitung von Naturhölzern verschrieben. Als eine Art „Baumflüsterer“ im Umgang mit originellen heimischen Baumstämmen? Besonders wenn er mit allen Sinnen die figürlichen Möglichkeiten abtaxiert, die in einem Birnen-, Nuss- oder Eichenstamm angelegt sind. Dabei ist es für ihn Ehrensache, den „Urwuchs“ des Holzes in der vorgefundenen Form zu belassen. Und dennoch mit geübten handwerklichen Kunstgriffen dem vorhandenen Eigenleben der Hölzer zum Durchbruch zu verhelfen.
„Man berührt sie und ist berührt!“ Schon mehrfach hat der Künstler diese Beobachtung gemacht, wenn Besucher seiner Galerie, innerlich bewegt, in einem der Kunstwerke die emotionale Beziehung zu ihrem Partner abgebildet sehen. Wie beispielsweise in dem doppelhälftigen Stamm einer Edelkastanie, der stets individuelle Assoziationen freisetzt nicht nur zum Verhältnis von Mann und Frau, sondern, auf anderer Ebene, auch zur Wechselbeziehung von Körper und Geist. Natürliche Skulpturen, in die man sich gerade wegen ihrer Schlichtheit nicht nur hineinversetzen, sondern sogar „in sie verlieben“ kann, wie der Künstler abschließend nicht ohne Erstaunen feststellt.
Überwältigendes Bergpanorama
Doch nun ruft der Berg. Denn nicht weit entfernt von der Ortschaft entfernt befindet sich in südlicher Richtung die Talstation der Fellhornbahn. Sie führt hinauf auf das mehr als zweitausend Meter hohe Fellhorn, dem mit seiner Blütenpracht seit jeher der gute Ruf eines „Blumenberges“ vorauseilt. Mit zahlreichen Wanderwegen und Einkehrzielen ein wahres Eldorado für Wanderlustige. Bis hinüber zur Kanzelwand, teils auf schmalen Graten oder der Natur angepassten Bergpfaden mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden.
Schnell trägt das überwältigende Bergpanorama dazu bei, den Inferno-Eindruck der Breitachklamm zu überlagern. Und wie von selbst die Vorstellung zu stärken, dem Himmel ein Stück näher gekommen zu sein. Bei weniger hochalpinem Ehrgeiz, davon sind allerdings die beiden Wanderbegleiter Hannelore und Gerhard Miksch überzeugt, ist bereits die Mittelstation der Fellhornbahn ausreichend für ein erfüllendes Bergerlebnis. Denn diese lädt während der Sommermonate auf einer vorgelagerten Felsenfläche ein zu stimmungsvollen Berggottesdiensten im Freien.
Unberechenbare Natur
Wer jedoch die Bewegung sucht, der entdeckt von hier aus jenseits des kleinen Schlappoldsees die Alpe Schlappold. Mit mehr als 1700 Metern die höchste bewirtschaftete Sennstation in Deutschland. Geduckt an den Fuß des Schlappoldkopfes ziehen, vom unberechenbaren Höhenwind getrieben, Wolkenfetzen fedrig leicht über sie hinweg. Und gellend pfeifende Murmeltiere nutzen die sommerlichen Temperaturen, um auf den umliegenden Almwiesen ihre unterirdischen Bauten mit trockenem Heu für den Winter auszustaffieren. Stets in allen Richtungen vorsichtig Ausschau haltend nach Gefahren, so wie es die Erfahrung sie gelehrt hat.
Nur die Kühe strahlen mit ihrem hellen Glockengeläut eine beruhigende Atmosphäre aus. Mehr als siebzig Tiere, die hier zwischen Himmel und Erde, so Almhirt Florian Seltmann, hundert Sommertage lang seiner Obhut anvertraut sind. Nicht immer unter einfachen Bedingungen, besonders wenn selbst im Hochsommer ein Schneesturm das Grün der Almen mit einem weißen Teppich überzieht. Für ihn ein wahrer Albtraum, denn dann muss die gesamte Herde wieder ein Stück talwärts bis an die Schneegrenze getrieben werden, um unbeschadet bis zum Almabtrieb den Almsommer zu überstehen. So sind es auch für den Almhirten zweifellos die Unwägbarkeiten der Natur, die ihm in dieser Bergeinsamkeit stets den größten Respekt abverlangen.
Reiseinformationen “Oberstdorf”:
Anreise: A7 (Ulm-Füssen) bis Autobahnkreuz Allgäu. Beim Autobahndreieck Allgäu über das Teilstück der A980 bis Waltenhofen, weiter auf der B19 über Sonthofen nach Oberstdorf; per Bahn über Ulm.
Reisezeit: Ganzjährig; am besten zur Sommersaison von Frühling bis Herbst (Oberstdorfer Musiksommer!) oder zum Skifahren in der Wintersaison.