In der Textfassung von Ann-Christin Rommen und Wolfgang Wiens ist die Hälfte der handelnden Personen gestrichen und der ohnehin knappe Text erheblich gekürzt, wobei alles Anrüchige und politisch Unkorrekte verschwunden ist.
Abendfüllende Länge bekommt das Stück durch die Songs von Tom Waits, traurige Balladen voller Sehnsucht und Schmerz.
Regisseurin Jorinde Dröse hat das Wilson-Konzept übernommen und es, mit einem hervorragenden Schauspielensemble, eigenwillig und höchst brisant inszeniert.
Eingebettet in ästhetisch schöne Bilder und emotional mitreißende Musik, kommt die Geschichte vom armen Woyzeck, sparsam und pointiert erzählt, in ihrer ganzen Grausamkeit und Bitterkeit zum Ausdruck.
Zu Beginn öffnet sich ein hellgrüner Samtvorhang für die erste Darbietung in der Schaubude. Susanne Schuboth, verantwortlich für Bühnenbild und Kostüme, hat als Spielfläche eine Arena aus grauem Holz konzipiert, die wie ein Amphitheater en miniature aussieht und die in eine Vorbühne ausläuft. Die verschiedenartig zusammengebastelten Kostüme vermitteln eine Atmosphäre wie in Filmen nach Charles-Dickens-Romanen. Schönheit gewinnt die Szenerie vor allem durch die wundervolle Lichtgestaltung von Ingo Greiser.
Dass dem Publikum etwas Anderes als eine beschauliche Idylle vorgeführt werden soll, macht Markus Graf als Ausrufer sofort deutlich. Markus Graf gibt sich als volksnaher Überredungskünstler und wirkt zugleich bedrohlich, grimmig und menschenverachtend.
Der Ausrufer ist der Herr des Abends, der Showmaster, der die handelnden Personen präsentiert und bloßstellt. Und wenn Markus Graf später, in einer zweiten Rolle als Karl in kurzen Hosen am Bühnenrand sitzt, dann erscheint das so, als habe der Ausrufer sich verkleidet, um unerkannt das Geschehen weiter zu beeinflussen und düster zu kommentieren.
Eine völlig skurrile Figur in Kostüm, Gehabe und Artikulation ist Helmut Mooshammer als Doctor. Er ist eher eine empfindungslose Maschine als ein Mensch und könnte geradewegs der Feder des E.T.A. Hoffmann entsprungen sein.
Lächerlich in seinem ärmellosen Lurex-Oberteil mit roten Schulterklappen wirkt der Hauptmann (Mathias Neukirch). Anscheinend ist er ein weltfremder, egozentrischer Spinner. Wenn er Woyzeck über Marie die Augen öffnet, beweist dieser Hauptmann jedoch eine erschreckende Brutalität.
Auch der Tambourmajor erscheint zuerst als lächerliche Figur, ein dicklicher Mann im Anzug mit buntkariertem Hemd und großer Brille, der sich vorsichtig und selbstverliebt in den Hüften wiegt. Aber dann legt Christoph Franken los mit einem Feuerwerk von Tanz, Bewegung, gewagten Stürzen und einer exzellenten Gesangseinlage, wirft Konfetti über sich und versetzt nicht nur Marie, sondern auch das Publikum in Begeisterung.
Maren Eggert als Marie ist eine sanfte Träumerin, eine, die keine Chance hat, aus einem Leben in Armut herauszukommen, und die sich offenbar schäbig vorkommt neben der aufreizend herausgeputzten, hochnäsigen Margreth (Pia Luise Händler).
Kein Wunder, dass diese Marie sich in den strahlenden Tambourmajor verliebt, sich in seinem Licht sonnt, glücklich ist über die schönen Ohrringe und Schuhe, die sie von ihm bekommt und den armseligen Woyzeck vergessen will.
Woyzeck (Moritz Grove) ist eine ganz und gar erbärmliche Kreatur, so in sich gekehrt und mechanisch unterwürfig, dass es kaum möglich ist, Mitleid mit ihm zu haben. Der Hauptmann kommandiert ihn herum, der Doctor benutzt ihn für medizinische Versuche, und Woyzeck reagiert seinen Frust ab, indem er wie ein Rasender in der Arena herumjagt, wenn er nicht seine krausen Verschwörungstheorien seinem rührend tumben Freund Andres (Jonas Anders) mitteilt. Dieser Woyzeck ist einer, der eigentlich etwas lernen und wissen möchte, jedoch nie eine Chance auf Bildung bekommen hat.
Wenn Moritz Grove dann aber völlig verklärt dasteht und „Coney Island Baby“ singt, wird deutlich, dass es eine Kostbarkeit in Woyzecks Leben gibt, die für ihn alles Andere erträglich macht: Woyzeck liebt Marie, und außer dieser Liebe ist nichts wichtig für ihn.
Jorinde Dröse hat die Songs geschickt in ihre Inszenierung eingebaut. Die Musik begleitet nicht die Handlung des Stücks, sondern in ihr drückt sich das aus, was im Text nicht gesagt wird, die Gefühle und geheimen Sehnsüchte der Personen. Alle Mitwirkenden tragen diese musikalischen Einlagen sehr eindrucksvoll vor, und die im Hintergrund der Bühne platzierte sechsköpfige Band unter Leitung von Philipp Haagen ist ein hörenswertes künstlerisches Ereignis.
Als Woyzeck erfährt, dass Marie ihn mit dem Tambourmajor betrogen hat, verliert Woyzeck den Sinn seines Lebens. Er versucht, um die geliebte Frau zu kämpfen, aber er ist kein Gegner für den Tambourmajor, der ihn nur demütigt und sich über ihn lustig macht.
So geschieht es, dass der von allen verachtete, schwache Mensch sich an dem einzigen Wesen rächt, das noch schwächer ist als er. Woyzeck tötet Marie.
Der Mord passiert in dieser Inszenierung völlig undramatisch. Er ist das, was unter solchen Bedingungen unausweichlich werden kann.. Heimlich, hinter ihrem Rücken stehend, schneidet Woyzeck seiner Marie die Kehle durch, und erst, als sie leblos am Boden liegt, sticht er wie ein Wilder auf sie ein.
Damit ist die Sensationsschau beendet, und der Ausrufer setzt stimmgewaltig zum Finale an.
Das begeisterte Premierenpublikum erwirkte durch stürmischen Beifall und Bravorufe eine musikalische Zugabe.
„Woyzeck“ von Robert Wilson/Tom Waits/Kathleen Brennan nach dem Stück von Georg Büchner hatte am 02.10. Premiere in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin. Weitere Vorstellungen: 08., 10., 11. und 15.10.2009.