An der Verzweiflung verzweifeln

Israel
Die Mauer in Israel. © Foto: Dr. Bernd Kregel

Tel Aviv, Israel (Weltexpress). Mein Optimismus über die Zukunft Israels irritierte viele Leute. Wie kann ich angesichts dessen, was hier jeden Tag geschieht, ein Optimist sein? Die praktische Annexion der besetzten Gebiete? Die Misshandlung der Araber? Die Implantation der giftigen Siedlungen?

Doch Optimismus ist ein Zustand der Seele. Sie wankt nicht gegenüber dem Bösen. Im Gegenteil – das Böse muss bekämpft werden. Und man kann nicht kämpfen, wenn man nicht glaubt, dass man siegen kann.

Einige meiner Freunde glauben, dass der Kampf schon verloren ist. Dass Israel nicht mehr länger „von innen“ verändert werden kann. Dass der einzige Weg der ist, dass Druck von außen ausgeübt wird.

Zum Glück glauben sie, es gäbe draußen eine Organisation, die bereit und in der Lage sei, für uns diesen Job zu erledigen.

Sie wird BDS genannt – kurz für „Boykott, Desinvestion, Sanktionen“.

Eine dieser Freunde ist Ruchama Marton.

Wenn jemand das Recht hat zu kritisieren und zu verzweifeln, dann ist sie das. Ruchama ist eine Psychaterin, die Gründerin der „Ärzte für Menschenrechte“, eine ausgezeichnete israelische Gruppe.

Die Ärzte gehen jede Woche in ein arabisches Dorf und geben allen, die es brauchen umsonst medizinische Hilfe. Selbst die israelischen Behörden akzeptieren dies und willigen oft auf ihr Verlangen ein, kranken Leuten aus den besetzten Gebieten zu erlauben, nach Israel zur Behandlung in ein Krankenhaus zu kommen.

Als wir letzte Woche Ruchamas 80. Geburtstag feierten, wandte sie sich an mich und warf mir vor, falsche Hoffnungen über die Chance zu wecken, dass das heutige Israel jemals Frieden machen und sich von den palästinensischen Gebieten zurückziehen wird. Nach ihr sei diese Chance vorbei. Was übrig geblieben sei, sei die Pflicht, BDS zu unterstützen.

BDS ist eine weltweite Bewegung, die den totalen Boykott von allem Israelischen propagiert. Sie wünscht, dass Korporationen, besonders Universitäten sich davon überzeugen, sich von israelischen Investitionen zu trennen und alle Arten von Sanktionen gegen Israel zu unterstützen.

In Israel wird BDS wie der Teufel gehasst, vielleicht sogar noch mehr. Man braucht in Israel wirklich eine Menge Mut, um sie öffentlich zu unterstützen, wie es ein paar Leute tun.

Ich versprach Ruchama, auf ihren Vorwurf eine Antwort zu geben.

Zunächst habe ich einen ernsten moralischen Einwand gegenüber jedem Argument, das behauptet, wir könnten nichts tun, um unseren eigenen Staat zu retten und dass wir unser Vertrauen ins Ausland setzen müssen, dass dies unsern Job tut.

Israel ist unser Staat. Wir sind für ihn verantwortlich. Er gehört den wenigen Tausenden, die ihn auf dem Schlachtfeld verteidigten, als er entstanden ist. Nun ist es unsere Pflicht, für ihn zu kämpfen, dass er der Staat wird, von dem wir dachten, wie er sein soll.

Selbst von einem moralischen Standpunkt aus akzeptiere ich den Glauben nicht, die Schlacht sei verloren. Keine Schlacht ist verloren, solange es Leute gibt, die zu kämpfen bereit sind.

Doch wenden wir uns vom Moralischen zum Politischen.

Ich glaube an Frieden. Frieden bedeutet ein Abkommen zwischen zwei (oder mehr) Seiten, um in Frieden zu leben. Israelisch-palästinensischer Frieden bedeutet, dass der Staat Israel und die palästinensische National-Bewegung mit einander einig werden.

Frieden zwischen Israel und Palästina setzen voraus, dass der Staat Israel existiert und zwar Seite an Seite mit dem Staat Palästina. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob dies das Ziel der BDS-Bewegung ist. Vieles, was sie tut und sagt, könnte zu dem Schluss führen, dass sie einen Frieden ohne Israel wünscht.

Ich bin davon überzeugt, dass es die Pflicht der BDS ist, diesen Punkt absolut klar zu machen. Frieden mit Israel oder Frieden ohne Israel?

Einige Leute sind davon überzeugt, dass Frieden ohne den Staat Israel möglich und wünschenswert ist. Viele von ihnen unterschreiben etwas, das die „Ein-Staat-Lösung“ genannt wird. Dies bedeutet, dass die Israelis und die Palästinenser als gleiche Bürger gemeinsam in einem Staat leben.

Das ist ein netter Traum, aber leider spricht die historische Erfahrung dagegen. Die Sowjetunion, Jugoslawien, Tschechoslowakei, Indochina und andere sind aus einander gebrochen; Belgien, Kanada und das UK und viele andere sind in der ernsten Gefahr, auseinander zu brechen. Gerade jetzt wird unter der Schirmherrschaft einer Friedensnobelpreisträgerin in Burma ein Völkermord ausgeführt.

Wollen zwei erbittert nationalistische Völker, die dasselbe Heimatland beanspruchen und seit fast 150 Jahren mit einander Krieg geführt haben, jetzt in einem gemeinsamen Staat friedlich zusammen leben? Unwahrscheinlich. In solch einem Staat würde das Leben die Hölle sein.

Ein israelischer Scherz: „Können der Wolf und das Schaf zusammen leben? Kein Problem. Man muss nur täglich ein neues Schaf liefern.

Leute, die BDS unterstützen, weisen gewöhnlich als Grundlage ihrer Strategie auf die Erfahrung von Südafrika hin.

Die Geschichte verlief folgendermaßen: die schwarze Mehrheit Südafrikas war von der weißen Minderheit unterdrückt worden. Sie wandte sich an die aufgeklärte (weiße) Welt, die einen weltweiten Boykott auf das Land proklamierte. Letzten Endes gaben die Weißen nach. Zwei wunderbare Menschen, Nelson Mandela und Frederick Willem de Klerk fielen sich in die Arme. Ende der Vorstellung.

Dies ist die Geschichte nach Meinung der Weißen. Sie reflektiert den typisch auf sich selbst konzentrierten weißen Egotismus. Schwarze Augen sehen eine etwas andere Geschichte.

Die Schwarzen, die die große Mehrheit in Südafrika darstellte, begann eine Kampagne mit Streiks und Gewalt. Auch Mandela war ein Terrorist. Die weltweite Boykott-Bewegung half sicherlich, es war aber der Kampf der Eingeborenen, der entscheidend war.

Die israelischen Führer sagten ihren weißen südafrikanischen Freunden, sie sollen das Land teilen. Aber keine der beiden Seiten wollten das annehmen

Die Umstände hier sind völlig anders. Israel braucht keine arabischen Arbeiter. Es kommt ohne sie aus. Es importiert Arbeiter aus aller Welt. Der Lebensstandard der Israelis ist mehr als 20mal höher als der der Palästinenser in den besetzten Gebieten. Auf beiden Seiten besteht ein starker Nationalismus. Wegen des Holocaust geniest die jüdische Seite die große Sympathie der Welt. Antisemitismus ist nicht die Mode und die israelische Propaganda klagt die BDS an, antisemitisch zu sein.

In einem Augenblick ungewöhnlicher Weisheit verordneten die Vereinten Nationen die Teilung Palästinas. Tatsächlich gibt es keine bessere Lösung.

Im Prinzip bin ich nicht gegen den Boykott. Schon 1977 war die Gush Shalom-Bewegung, zu der ich gehöre, tatsächlich die erste, die einen Boykott der Siedlungen proklamierte. Wir verteilten viele Tausende von Listen der Geschäfte, die dort wirkten. Eine Folge davon war, dass eine ganze Anzahl davon nach Israel umsiedelte. Ich kann mir leicht einen viel größeren Boykott aller Unternehmen vorstellen, die die Siedlungen unterstützen.

Doch nach meiner Einschätzung wäre ein Boykott Israels selbst ein Fehler. Er würde alle Israelis in die Arme der Siedler treiben, während es unser Job ist, die Siedler zu isolieren und sie von den normalen Israelis zu trennen.

Ist dies möglich? Ist dies noch immer möglich? Ich bin davon überzeugt.

Die gegenwärtige Situation macht deutlich, dass wir Fehler gemacht haben. Wir müssen anhalten und noch einmal direkt von vorne an denken.

Die von Ruchama Marton gegründete Organisation ist nicht die einzige für Frieden und Menschenrechte aktive Gruppe. Es gibt Dutzende von ihnen, von phantastischen Männern und Frauen gegründete, die jede in einer von ihr gewählten Nische wirken. Wir müssen einen Weg finden, um ihre Stärken mit einander zu verbinden, ohne ihre Unabhängigkeit und ihre besondere Art zu schädigen. Wir müssen einen Weg finden, um die politischen Parteien der Linken (Die Labor-Partei, Meretz und die Arabische vereinigte Liste), die sich in einem Koma befinden, sie ins Leben zurückzubringen oder oder eine neue Partei zu gründen.

Ich respektiere BDS und alle ihre Aktivisten, die ernsthaft darum kämpfen, die Palästinenser zu befreien und zwischen ihnen und uns Frieden zu machen. Die Anstrengungen, die jetzt in den USA gemacht werden, um ein Gesetz zu verabschieden, das ihre Aktivität verbietet, erscheint mir lächerlich und anti-demokratisch.

Lassen wir sie dort ihre Arbeit tun. Unser Job ist hier, unsere Anstrengung neu zu gruppieren, neu zu organisieren und zu verdoppeln, um unsere gegenwärtige Regierung und ihre Verbündeten zu stürzen und die Friedenskräfte an die Macht zu bringen.

Ich bin der Überzeugung, dass die Mehrheit der jüdischen Israelis den Frieden wünschen würde, wenn sie dächten, Frieden sei möglich. Sie sind zerrissen zwischen einer energischen rechten Minderheit mit einem faschistischen Rand, der behauptet, Frieden sei unmöglich und unerwünscht, und einer schwachen, sanften linken Minderheit.

Dies ist keine hoffnungslose Situation. Der Kämpf ist längst nicht vorbei. Wir müssen unsern Job innerhalb Israels tun und die ausländischen Kräfte ihren Job dort tun lassen.

Es gibt keinen Grund, zu verzweifeln, außer an der Verzweiflung selbst.

Anmerkungen:

Vorstehender Beitrag von Uri Avnery wurde vom Englischen ins Deutsche von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Unter www.uri-avnery.de erfolgte am 16. September 2017 die Erstveröffentlichung. Alle Rechte beim Autor.

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