Wien, Österreich (Weltexpress). Seit Jahrhunderten reagiert die Oper auf Bedrohungen durch angsteinflössende Krankheiten. Auch wenn sie derzeit nur via Streaming zu erleben sind, wirken einige Werke schlagartig frappierend gegenwärtig.
«Alles Walzer!» – Noch haben wir ihn im Ohr, den rituellen Ruf an jedem der zahllosen Wiener Bälle, der nach den Darbietungen der Debütantenpaare und Balletttänzer das Publikum auf die Tanzfläche lockt, vorzugsweise mit dem «Donauwalzer». Längst sind die Tanzparkette leer und mit ihnen sämtliche Kultureinrichtungen der Donaumetropole wie der meisten anderen Städte. «Alles Virus!», heisst es jetzt. Leider.
Die ominöse Ausgeburt der Natur beherrscht sämtliche Medien und alle Gespräche. Das Virus macht Angst, evoziert archaische Ängste – aber zugleich gibt es eine Gegenreaktion: Humor, schwarzen Humor natürlich, Galgenhumor. Und: Musik. Sie erklingt als Serenade von italienischen Fenstern und Balkonen, in Wiener Hinterhöfen und von Apartment-Hochhäusern in Tel Aviv, die allesamt zu improvisierten Schauplätzen kultureller Selbstbehauptung geworden sind. Musik tönt uns aus Laptops und Fernsehgeräten entgegen – denn viele der grossen Opernhäuser bieten jetzt kostenlose Streaming-Programme ihres Repertoires an. Eine hervorragende Idee, denn wenn schon die Menschen nun plötzlich gezwungen werden, zu Hause zu bleiben, soll sich dieses Zuhause zu einer von Hunderttausenden, ja Millionen von Opernlogen weltweit verwandeln.
Auf Gegenseitigkeit
So wird einer verzweifelten Situation durch grossartige Akte von Solidarität etwas Soziales und durchaus Positives abgewonnen: Menschen, die sonst aus finanziellen oder anderen Gründen nicht in die Oper gehen können oder wollen, erhalten sie jetzt gratis ins Haus – und können sich so einfach wie selten mit den zentralen Werken vertraut machen.
Umgekehrt fordern, etwa in London, etliche Theater einen Akt der Solidarität vom Publikum: Dieses wird bei der Stornierung der Plätze gebeten, den für Karten bereits bezahlten Betrag nach Möglichkeit nicht zurückzuverlangen, sondern dem Theater zu spenden. In England ist die öffentliche Kulturförderung lange nicht so grosszügig wie beispielsweise in Österreich und Deutschland.
So haben die Angst und die allgemeine Ungewissheit angesichts der rasend schnellen Verbreitung des Virus einen auf den ersten Blick unerwarteten Effekt: Es verstummt nicht die Musik, es breitet sich nicht tödliche Stille über die Welt – ganz im Gegenteil. Und das hat Geschichte.
Pest und Cholera
Als in Europa im 14. Jahrhundert, vor allem in den Jahren 1348 bis 1350, die Pest wütete und gesellschaftliches Chaos nach sich zog, entstanden in der Musik, in einer Welle der Kreativität, neue, nunmehr säkulare Formen: Rondeaus, Virelais und Balladen (die «ballata» als italienische Variante der französischen Virelais), etwa ab 1365 die populärste Form säkularen Gesangs. Vor der Kulisse das allgegenwärtigen Todes geisselten sich die einen und bereuten ihre Sünden – andere wandten sich diesen umso mehr zu: Vor allem junge Menschen zogen sich in verlassene Häuser zurück und feierten wilde Feste: 1349, auf dem ersten Höhepunkt der Pandemie, verfasste Boccaccio sein berühmtes «Decamerone». Und natürlich spielte die Musik bei diesen spontanen Partys eine zentrale Rolle.
Alexander Puschkin veröffentlichte 1830 das Libretto zu der heute völlig unbekannten einaktigen Oper «Das Gelage in der Zeit der Pest», welche im London des Krisenjahres 1665 spielt; die Musik stammt vom litauischen Komponisten César Cui, zeitweilig Mitglied, dann Gegner des «Mächtigen Häufleins» um Modest Mussorgsky.
In fast jeder Oper geht es um Liebe und Tod. Ein stärkerer Kontrast ist nicht denkbar. Und das Kunstwerk lebt von Kontrasten – Hell-Dunkel, Liebe – Tod. Letzterer ist zwar oft die Folge von Gift oder des Messerstichs, des Schwerthiebs oder der Pistolenkugel des jeweiligen Rivalen (meist der böse Bariton), der mit dem Liebhaber (natürlich Tenor) um dieselbe Frau kämpft. Aber nicht selten ist es auch der Tod, der von einer Krankheit kommt. Und manchmal ist diese Erkrankung sogar das Resultat einer Seuche.
Das stärkste Beispiel ist zweifellos Benjamin Brittens letzte Oper «Death in Venice», äusserst werkgetreu beruhend auf Thomas Manns Meisternovelle «Der Tod in Venedig» von 1911. Ich hatte das immense Vergnügen, letzten November eine Inszenierung von David McVicar am Londoner Royal Opera House Covent Garden zu erleben, welche sich visuell ihrerseits an ein Meisterwerk anlehnte: Luchino Viscontis «Morte a Venezia» mit Dirk Bogarde als Aschenbach. Brittens Oper erlebte zwei Jahre nach dem Film (doch konzeptionell vollkommen unabhängig von ihm) im Juni 1973 ihre Uraufführung.
In der Novelle wie in der Oper wird Venedig von einer gespenstischen Seuche heimgesucht, der «asiatischen Cholera». Sie ist vorerst unsichtbar, doch nach und nach werden die Menschen von ihr befallen. Das Hotelpersonal und die Reisebüro-Agenten streiten alles ab, aber der dünne Schleier der Lüge zerreisst immer weiter. Gustav (von) Aschenbach, der tragische Held, stirbt, medizinisch gesehen, wohl auch an der Seuche, aber gleichermassen an seinen inneren Dämonen. Britten stirbt drei Jahre nach der Uraufführung, aber bereits bei der Premiere in Covent Garden war der Komponist schwer herzkrank. Ironie des Schicksals: Ursache dieser Krankheit könnte ein folgenreiches Virus gewesen sein, das ihn schon bei einem Besuch 1968 in Venedig befallen haben soll.
Der Vorname des Protagonisten war eine Hommage an Gustav Mahler, den Thomas Mann verehrte. Visconti verwendete denn auch sehr bewusst das Adagietto aus Mahlers 5. Sinfonie, das dadurch zu einem Schlüsselstück der Mahler-Renaissance wurde (die seit den 1960er Jahren an Fahrt gewann). Eine sensiblere Musik vor der Kulisse Venedigs ist schlichtweg nicht denkbar. Thomas Mann erfuhr von Mahlers Tod im Mai 1911 auf der Insel Brioni – der letzten Station vor seiner Weiterreise nach Venedig. Mann, der ebenso wie seine literarische Figur Aschenbach im Grand Hôtel des Bains am Lido abgestiegen war, begegnete dort, laut Aussagen seiner Frau Katia, tatsächlich einer polnischen Familie; doch der von Aschenbach begehrte Tadzio hiess eigentlich Wladyslaw, also Wlazio oder Adzio. Thomas Mann hatte sich offenbar verhört.
Kameliendamen
Seit Jahrhunderten zeichnet die Operngeschichte viele der jeweils grassierenden Krankheiten und Seuchen nach. Nicht nur die Cholera wird ihr Thema, auch Syphilis und neuerdings sogar Aids, etwa in der Opernversion von Tony Kushners «Angels in America», komponiert von Péter Eötvös. Tuberkulose rafft Mimì in «La Bohème» dahin, ihr erliegt schon Verdis Lebedame Violetta Valéry in «La Traviata». Violetta hiess in Wirklichkeit Marie Duplessis und starb im Januar 1847 in ihrer letzten Wohnung, am Boulevard de la Madeleine 11 in Paris, an der «Schwindsucht», wie man damals beschönigend sagte. Alexandre Dumas schrieb «La Dame aux Camélias» ein Jahr nach Duplessis’ Tod – sie war seine Geliebte. Auch hier schliessen sich die Kreise von Werk und Biografie des Autors.
Verdi, der – wie Proust einst bemerkte – mit seiner «Traviata» die «Dame aux Camélias» erst zum Kunstwerk machte, gab Violetta einen ohrwurmverdächtigen Walzer, das Trinklied «Libiamo ne’ lieti calici», mit auf ihren tragischen Weg. Walzer waren im Paris des 19. Jahrhunderts so populär, dass sie nicht nur als moralisch verwerflich und riskant empfunden wurden – sondern, wohl nicht ganz abwegig, wegen der physischen Nähe der Paare auch als Infektionsquelle für die Tuberkulose. Die Übertragung erfolgte durch Tröpfcheninfektion – beispielsweise durch Husten. Die Parallelen zur Gegenwart sind offensichtlich. «La Traviata» und «La Bohème», bis vor kurzem noch als romantisch verklärter Blick in eine überwunden geglaubte Vergangenheit empfunden, sind plötzlich wieder hochaktuell.
Jeder von uns ist unterdessen mehr oder weniger einschneidend von der Corona-Krise betroffen. Mir folgte die Virus-Welle wie ein Gespenst. Es tauchte auf, als ich mir im Rahmen einer journalistischen Reise fünf Opern in vier italienischen Städten anschaute – Mailand, Venedig, Bologna, Turin. In Venedig, wo gerade der Karneval dem Höhepunkt zustrebte, herrschte bei strahlendstem Sonnenschein fröhliches Maskentreiben. Ich sah dort «L’elisir d’amore» – nach meiner Abreise schloss das Teatro La Fenice seine Pforten. Kurz darauf war ich an der Scala, «Il turco in Italia». Hinter mir schlossen sich die Tore des weltberühmten Opernhauses. Erst vergangene Woche war ich dann noch einmal in der Wiener Staatsoper: «Turandot». Es sollte die letzte Vorstellung im Haus am Ring sein – wohl für lange Zeit.
Anmerkung:
Vorstehender Artikel von Dr. Charles E. Ritterband wurde unter dem Titel „Alles Virus – auf der Opernbühne hat man es immer schon gewusst“ am 20.3.2020 in „NZZ“ veröffentlicht und in „Klassik begeistert!“ am 15.3.2020.