Lausanne, Schweiz; Berlin, Deutschland (Weltexpress). Als Caster Semenya vor zehn Jahren bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Berlin als Weltmeisterin über 800 m gekürt wurde, da ergossen sich Lobeshymnen über die Südafrikanerin. Verständlich über eine erst 18-jährige WM-Debütantin, die mit scheinbarer Mühelosigkeit der prominenten Gegnerschaft auf der blauen Kunststoffbahn davonlief.
Den folgenden Prognosen einer sportlich großen Karriere auf der Laufbahn wurde Semenya eindrucksvoll gerecht: Unter anderem als zweifache Olympiasiegerin über die zwei Stadionrunden und dreimalige Weltmeisterin sowie als Dauersiegerin bei der wichtigsten Wettkampfserie des Weltverbandes!
Den Weltrekord der Tschechin Jarmila Kratochvilova aus dem Jahre 1983 von 1:53,28 Minuten verpasste die Läuferin aus Südafrika bis dato um eine knappe Sekunde. Für die „Neue Züricher Zeitung“ allerdings ist jene nun bereits 36 Jahre gültige Bestmarke ohnehin „der unschlagbare 800-m-Weltrekord“! Dennoch: Semenya ist über das zurückliegende Jahrzehnt die mit Abstand erfolgreichste Sportlerin in der Leichtathletik, gemeinhin als Königsdisziplin der Olympischen Spiele angesehen.
Sie also als Leichtathletik-Star zu würdigen, dürfte unbestritten sein. Dennoch wird sie selbst bei ausgemachten Fans dieser Sportart nicht als Superstar oder gar Aushängeschild beziehungsweise Gesicht der Leichtathletik empfunden. Das liegt daran, dass zu viele Fragezeichen ihren unaufhaltsamen Siegeszug und die frappierende Überlegenheit vor ihrer weiblichen Gegnerschaft begleiten. Das geht bis zu der Frage: Wann ist eine Sportlerin auch eine Frau oder ist Semenya tatsächlich eine Frau? Oder eher etwas dazwischen. Ein Zwitter, wie man bis vor kurzem noch sagte, oder dem Geschlecht nach intersexuell oder divers, wie manche heutzutage das sogenannte dritte Geschlecht bezeichnet.
Äußerlich ähnelt Semenya durchaus Kratochvilova. Groß, sehr muskulös, breite Schultern, herbe Gesichtszüge, tiefe Stimme. Bei der Tschechin kam noch für Frauen unüblicher starker Bartwuchs hinzu. Die Tschechin, olympische Silbermedaillengewinnerin über 400 m 1980 in Moskau und 1983 Weltrekordlerin über 400 m und 800 m, erhielt ihre Starterlaubnis als Athletin nach der damals üblichen „Nackt-Begutachtung“.
Das ist identisch mit der Geschlechtsbestimmung bei Säüglingen, wie sie heute noch üblich ist. „Ich pinkele wie eine Frau, also bin ich eine Frau“, hat Caster Semenya einmal auf eine Frage geantwort. Sie wird wohl eine Vagina statt einen Penis haben. Bei Kratochvilova dürfte es ähnlich gewesen sein.
Weil aber die Wissenschaft inzwischen viel weiter ist und nicht nur ihre Konkurrentinnen wissen wollten, warum Semenya so viel schneller laufen kann, musste sich jene den zuständigen Ärzten des Dachverband aller nationalen Sportverbände für Leichtathletik, dem International Association of Athletics Federations (IAAF), stellen. Der Weltverband brachte heraus: Semenya hat zwar eine Vagina, aber innen liegende Hoden, keine Gebärmutter und keine Eierstöcke. Diese, ihre Hoden produzieren das männliche Hormon-Testosteron, was für das erhöhte Leistungspotenzial verantwortlich ist.
Semenya hat pro Liter Blut einen dreifach höheren Wert an Testosteron als im Schnitt bei Frauen. Frauen mit dieser biologischen Konstellation werden wissenschaftlich als hyperandrogyne Frauen bezeichnet. Also mit einem überhöhten Anteil des männlichen Hormons Testosterons. Dies darf man auch von den Geschwistern Irina und Tamara Press vermuten, die als Starter für die Sowjetunion in den 1960er-Jahren schier unschlagbar waren. Eine Ermittlung der Testosteron-Werte hat es seinerzeit noch nicht gegeben.
Als die IAAF den durch Studien belegten Wettbewerbsvorteil mit der Festlegung eines Grenzwertes für Athletinnen einschränken wollte und dessen Senkung durch Einnahme von Medikamenten empfahl, klagte dagegen eine davon betroffene indische Sprinterin vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS. Der Einspruch wurde abgewiesen. Die IAAF reduzierte den Grenzwert auf nun
fünf Nanomol pro Liter Blut. Dagegen klagte Semenya beim CAS und unterlag mit 1:2 Richterstimmen gleichfalls. Sie kündigte anschließend an, sich nicht nochmals dem Medikamenten-Zwang zu unterziehen. Das scheint verständlich. Als sie sich einer entsprechenden Behandlung unterzogen hatte, waren ihre Zeiten um mehrere Sekunden schlechter gewesen.
„Das ist eine illegale Methode“, klagte Semenya zu der künstlichen Senkung ihres Hormonspiegels. „Gott hat über meine Karriere entschieden, Gott wird sie beenden. Kein Mann oder ein anderes menschliches Wesen kann mich am Laufen hindern. Warum soll ich mit 28 Jahren aufhören? Ich fühle mich jung und voller Energie“, klärte sie.
Unverständnis mit dem CAS-Spruch äußerten Sportlerinnen wie die ehemalige Tennisspielerin Martina Navratilova, Vertreter intersexueller Verbände oder auch Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebundes. Die Startberechtigung mit dem Zwang zu Medikamenteneinnahme zu verbinden, sei unethisch und verstoße gegen die Menschenrechte. Der neue Grenzwert ist ab dem 8. Mai gültig für alle Starterinnen bei Wettbewerben von 400 m bis 1500 m.
Will Semenya weiterhin an offiziellen Wettkämpfen bis hin zu den Weltmeisterschaften im September in Doha teilnehmen, müsste sie auf die 3000 m oder 5000 m ausweichen.
IOC-Präsident Thomas Bach sagte, er habe „eine Menge Sympathie“ für Caster Semenya. „Der Fall ist extrem komplex“, sagte der Chef des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Bach meint auch, dass das Thema „extrem delikat“ und es „extrem schwierig“ sei, „darüber zu richten“. Das IOC respektiere die CAS-Entscheidung, aber es gebe auch eine menschliche Sicht.
Als letzte juristische Möglichkeit gegen die Grenzwert-Regel vorzugehen, wäre der Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Da dürfte allerdings nicht zu ihren Gunsten sprechen, dass Caster Semenya seit einiger Zeit mit einer attraktiven jungen Südafrikanerin verheiratet ist und sich auf dem Hochzeitsfoto im schicken Aufzug als stolzer Bräutigam präsentierte.