Am 8. Mai wurde nun in Falaise in der Normandie ein Museum über das Leben der Zivilisten im Kriege eröffnet, das erste der Welt. Dass dies in der Normandie entstand, ist kein Zufall. Auch hier gibt es Dutzende Museen und Gedenkstätten über den D-Day, über die Landung westalliierter Truppen am 6.Juni 1944, die zur Befreiung Frankreichs führte. Diese Schlacht wurde mit aller Härte geführt. Die Landung war schwierig, verbunden mit hohen Verlusten. Aber die deutschen Faschisten mussten vertrieben werden, die Briten und Amerikaner setzten ihre Bomberflotte ein, um die deutschen Truppen zu zerschlagen. Betroffen war die Zivilbevölkerung – Folgen der deutschen Aggression, die der deutschen Bevölkerung kaum bewusst sind. Als es die Deutschen 1944/45 selbst traf, war das Wehklagen groß, und es hält bis heute an. Ursache und Wirkung werden gern verwechselt.
Nun, am 71. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, wurde in einem ehemaligen Gerichtsgebäude in der Stadt Falaise für 4,1 Millionen Euro ein Museum eingeweiht: »Die Zivilisten im Kriege«. Französisch heißt es Memorial – Gedenkstätte. Einen Vorläufer hat das Falaiser Museum im Memorial in Caen, der Hauptstadt des Departements Calvados. Gegründet 1987, war es den Kämpfen bei der Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 gewidmet, also vorrangig den militärischen Operationen und ihren Gefallenen.
Was Staatsoberhäupter nützen können
Bemerkenswert sind die Urheber des Museums: nicht die Regierung in Paris, sondern Kommunalpolitiker der Region. In Caen war es der unlängst verstorbene langjährige Bürgermeister Jean-Marie Girault und in Falaise der Präsident des Kommunalverbandes Claude Leteurtre und der Bürgermeister Eric Macé. Ihr Motiv waren die Leiden der Bevölkerung, die im Hinterland der Landungsstellen zwischen die Fronten geraten, Beschuss, Bomben und SS-Terror ausgesetzt war und 20 000 Tote zu beklagen hatte.
Die Planung des Museums begann 2011, wovon die Finanzierung das schwierigste war. Zu Hilfe kam den Initiatoren indirekt Präsident Francois Hollande, der 2014 in seiner Rede zum 70. Jahrestag der Landung in der Normandie die Leiden der Zivilbevölkerung hervorgehoben hat. Das war der Durchbruch, wie die beiden sagen.
Die Ausstellung verbindet geschickt das Besatzungsregime in Frankreich mit den Ereignissen in der Normandie. Nach dem Überfall auf Frankreich hatte Hitler den Plan, Frankreich auszuplündern. Unter Mitwirkung der Vasallenregierung des Marschalls Philippe Petain in Vichy wurde ein ausgeklügeltes Besatzungsregime geschaffen, besiegelt durch den Handschlag Hitlers mit Petain am 24. Oktober 1940. 140 000 Besatzer – Militär und Zivilbeschäftigte – beherrschten eine Bevölkerung von 40 Millionen. Besatzungskosten von 300 bis 500 Millionen Franken täglich waren von Frankreich in Gold zu zahlen. Militärbefehlshaber, Feldgendarmerie, die Sicherheitsdienste von SS und SD terrorisierten die Bevölkerung. Das Trugbild vom »korrekten Soldaten« sollte die Franzosen täuschen. Die Realität sah anders aus. Lebensmittel wurden rationiert. Unmengen von Lebensmitteln und Rohstoffen wurden nach Deutschland geschafft. Wo die Industrie des Landes nicht selbst für Deutschland produzieren musste, wurden ökonomische Grundlagen der Volkswirtschaft untergraben. Zum Beispiel wurden 75 000 Pferde requiriert, ein Schlag für Landwirtschaft und Gewerbe.
Im besetzten Gebiet entging nichts der deutschen Regelungswut, wie die Legende feststellt. Tausende Dekrete und Verordnungen wurden erlassen, die tief in den Alltag der Franzosen eingriffen. Gezeigt wird auch, wie die Bevölkerung versuchte, mit der Knappheit an Lebensmitteln, Kleidung und Schuhen fertig zu werden, mit System D, wie die Franzosen es nannten. An die Besatzer wurden Reichskreditkassenscheine ausgegeben, eine zweite Währung, die ihnen wohlfeile Einkäufe zum Kurs von 1Mark : 20 Franken ermöglichte. Franzosen hingegen wurden für Schwarzmarktgeschäfte hart bestraft.
Kollaboration der Vichy-Regierung
Ihren Verrat am französischen Volk kaschierte die Vichy-Regierung mit Parolen von einer »nationalen Revolution« und »Arbeit, Familie, Vaterland« – Sozialpartnerschaft statt Klassenkampf. Besonders die Jugend wollte Petain in der Organisation »Compagnon de France« politisch vereinnahmen und militärisch ausbilden – mit geringem Erfolg. Die Schuld gab Petain den Lehrern der III. Republik, die die Kinder zu »moralischer Dekadenz« erzogen hätten (Von ideologischen Reinigungen nach der »Wende« können auch die Lehrer der DDR ein Lied singen).
1942 forderten die Nazis von der Vichy-Regierung 250 000 Arbeiter für das Reich. Petain wollte einen Handel machen: einen Freiwilligen für einen Kriegsgefangenen. Das gelang nicht. Da sich wenige Freiwillige fanden, schuf Vichy im Januar 1943 den Service du Travail Obligatoire, einen Arbeitsdienst, der den Nazis billige Arbeitssklaven lieferte. Im Volke bildete sich ein Begriff: »Absents« – die Abwesenden. Das waren 1,5 Millionen Kriegsgefangene, 250 000 »Freiwillige« und 650 000 Zwangsarbeiter. Auch Illegale, Juden und Widerstandskämpfer, waren Absents.
Mit dem Fehlen der Männer wandelte sich die Stellung der Frau in der französischen Gesellschaft. Vor der Befreiung hatten die Frauen faktisch keine Rechte. Das Wahlrecht wurde ihnen erst nach der Befreiung zugestanden. Aber da sie mit der Abwesenheit der Männer zum Familienoberhaupt wurden, wuchs ihr Selbstvertrauen und ihr Anspruch auf ihre politischen Rechte. Viele schlossen sich der Resistance an. Die Ausstellung würdigt zwei bekannte Frauen der Resistance, Simone Segouin und Edmunde Robert. Simone Segouin, bekannt unter dem Kampfnamen Nicole Minet, war eine legendäre Figur der Resistance. Edmunde Robert war Mitglied des kommunistischen Widerstands in der Normandie. 1942 verhaftet, wurde sie in das Lager Jauer bei Berlin deportiert. Sie starb nach der Befreiung auf dem Rücktransport nach Frankreich.
1940 lebten in Frankreich 330 000 Juden, darunter viele Flüchtlinge. Viele flohen ins Ausland. 65 000 Erwachsene und 11 000 Kinder wurden mit Hilfe des Vichy-Regimes in die Vernichtungslager deportiert. 2 500 überlebten. Geschildert wird das Schicksal einer jüdischen Familie aus Caen. Der Vater starb als Arbeitssklave in Auschwitz. Fünf Kinder wurden vergast.
Eine Abteilung des Museums ist dem Widerstand in der Normandie und der Maschinerie ihrer Bekämpfung durch die Geheime Feldpolizei, durch Sondereinheiten der Kriminalpolizei, die Wehrmacht und »Hilfsgruppen« gewidmet. Am 15. April 1942 brachte eine Gruppe einen Militärzug zur Entgleisung. Als Vergeltung wurden 28 Kommunisten und Juden sofort erschossen. 500 Männer wurden in den Osten deportiert. Von neun Widerstandskämpfern sind Lagerfotos erhalten. Einer von ihnen überlebte. Zwei angesehene Bürger von Falaise sind Überlebende einer Gruppe, die einem Fallschirmspringer halfen.
Befreiung und Wiederaufbau
In den Städten und Dörfern der Normandie erblickt der Reisende viele schöne Marktplätze, Straßen und Bauernhöfe mit typisch normannischem Fachwerk. Auch Straßenzüge und Wohnviertel mit Neubauten fallen auf. Das weckt den Eindruck einer prosperierenden Wirtschaft, reicher Städte und einer klugen Stadtplanung. Wie solch ein Bild entsteht, erschließt sich im Museum.
Um die Ereignisse des Jahres 1944 möglichst genau zu rekonstruieren, interviewten Mitarbeiter und Helfer des Museums 80 Einwohner von Falaise und Umgebung, 1944 Kinder, heute 80 und 90 Jahre alt. Die Landung am 6. Juni konnte der Bevölkerung nicht angekündigt werden. Am 7. Juni warfen alliierte Flugzeuge Flugblätter ab, die Städte würden bombardiert werden. Viele glaubten es nicht, andere flohen. Das Inferno brach herein und viele Städte und Dörfer fielen in Schutt und Asche. Hinzu kamen die Kämpfe zwischen alliierten und deutschen Truppen. Von 763 Gemeinden waren 744 betroffen. Die Städte Caen, Le Havre, Vire, Falaise und St Lo wurden zu 70 bis 80 Prozent zerstört. In einem Immersive Saal, errichtet über den Grundmauern eines zerstörten Hauses, laufen Dokumentaraufnahmen jener Tage, die dem Besucher das Gefühl geben, mitten im Bombenhagel zu stehen (Wie es da krachte, so kracht es auch heute wieder in Syrien, Irak, Gaza, Kurdistan und Jemen). Zu den Angriffen kam der Terror der SS. 150 000 Einwohner verließen ihre Häuser und übernachteten zum Teil auf freiem Feld. Den Befreiern sahen sie teils mit Hoffnung und teils mit Furcht entgegen, wie der Bürgermeister Eric Macé erzählt. Im Calvados waren 80 000 Gebäude und 180 000 Wohnungen zerstört. Die Menschen lebten in Ruinen, sogar in Höhlen am Steilufer der Seine.
Für die zerstörten Städte erließ der Staat Wiederaufbauprogramme, die zwischen 1955 und 1965 realisiert wurden. Das zeigt das Museum eindrucksvoll. Dämmert dem deutschen Urlauber, welch ungeheure Anstrengung es den französischen Staat und das französische Volk kostete, ihre unverschuldet zerstörten Städte wieder aufzubauen? Wen hat das in Deutschland überhaupt interessiert, selbst beschäftigt mit dem Partizipieren am Wirtschaftswunder? Die Ausstellung verschweigt nicht, dass deutsche Kriegsgefangene bei lebensgefährlichen Arbeiten wie Minenräumen eingesetzt wurden, was laut Erläuterung gegen das Völkerrecht verstieß. Wer will darüber richten?
Ermittlung der zivilen Todesopfer
Ähnlich wie in Dresden gingen die Meinungen über die Todesopfer der Zivilbevölkerung weit auseinander. Lange Zeit schätzte man 50 000 Tote. In den neunziger Jahren gingen die Mitglieder der Seniorenuniversität und Wissenschaftler der Universität Caen daran, aus Einwohnerverzeichnissen, Inschriften von Friedhöfen und Gedenktafeln die Todesopfer namentlich zu erfassen. Sie kamen auf rund 20 000.
Die Exposition beeindruckt mit akribischer museologischer Arbeit. Eine Neuheit in Frankreich dürfte sein, dass die Schrifttafeln zu den Hauptthemen neben französisch und englisch (die Norm) auch in deutscher Sprache verfasst sind.
Auf einer großen Tafel werden auch die zivilen Opfer des Zweiten Weltkrieges in der ganzen Welt ausgewiesen, mitunter mit großen Toleranzen. Es waren 35 Millionen, darunter in der Sowjetunion 16 Millionen, in China zwischen 12 und 17 Millionen, in Polen zwischen 4,2 und 5,5 Millionen, in Jugoslawien zwischen 600 000 und 1,3 Millionen, in Deutschland (einschließlich des annektierten Österreich) 1,5 Millionen. Zu den Opfern zählen auch 6 Millionen ermordete Juden, darunter 1,4 Millionen Kinder. Mit 35 Millionen ist die Zahl der getöteten Zivilisten höher als die von 30 Millionen toter Soldaten. Dabei sind die Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, nicht erfasst. In der modernen Militärtechnik wird viel Aufwand betrieben, um die Soldaten zu schützen. Für den Schutz der Zivilbevölkerung geschieht faktisch nichts. Das sind ja »die anderen«. Das einfachste Mittel wäre: Kein Krieg.
Offene Fragen
Das Museum überzeugt, dennoch lässt es Fragen offen. In den Küstengebieten wurden beim Bau des Westwalls französische Arbeiter und möglicherweise Gefangene eingesetzt. Über ihre Kommandierung und ihre Arbeits- und Lebensbedingungen wird nicht berichtet.
Die strategische Bedeutung der Ausbeutung Frankreichs als Industrieland mit reicher Landwirtschaft für die Kriegführung ist nicht zu bezweifeln. Die Ausplünderung der französischen Volkswirtschaft allein auf Hitlers Entschluss zurückzuführen, ist jedoch einige Nummern zu klein. Kein Wort über die Hintermänner und Profiteure.
Das französische Volk leistete breiten Widerstand gegen die Okkupation. Staunen kann der Besucher über die unermüdliche Aufklärungsarbeit der Resistance mit illegalen Zeitungen und Flugblättern. Aber es gab die Kollaboration, nicht nur die Petains und seiner Regierung. Lange Zeit in Frankreich ein vermiedenes Thema, ist es trotz einiger Andeutungen auch hier unterbelichtet.
Vom Bündnis mit der Sowjetunion und ihrer Rolle bei der Befreiung Europas ist nicht die Rede, aber indirekt schon, indem der französische Widerstand nach der Schlacht bei Stalingrad einen Auftrieb erlebte.
Es war eine kluge Entscheidung des Kurators Stephane Grimaldi, das Leben der Zivilisten im Kriege auf Frankreich zu beschränken. Das Leiden der von der Aggression überzogenen Völker Europas und Asiens hätte den Rahmen des Museums in Falaise gesprengt. Ein Memorial zur Selbstvergewisserung des französischen Volkes und zur Aufklärung ausländischer Besucher ist unentbehrlich. Im ersten Jahr werden 35 000 Besucher erwartet.
Aufklärung und antisowjetische Seitenhiebe
Bei den Feiern zur Landung der Westalliierten im Juni 2014 fiel auf, dass der Anteil der Sowjetunion bei der Zerschlagung des deutschen Faschismus im Westen weit unterschätzt wird. Einen bitteren Beigeschmack hinterlassen im Begleitheft magere Zeilen über die Leiden der Zivilisten an der Ostfront mit völlig unmotivierter antisowjetischer Tendenz. Zitiert wird der Historiker Jochen Böhler vom Imre Kertesz Kolleg an der Universität Jena mit Repressalien der »Russen« gegen die deutsche Zivilbevölkerung durch Plünderung, Brandschatzung und Vergewaltigung von 100 000 Frauen in Berlin mit Duldung der sowjetischen Kommandeure. Der Hinweis auf Grausamkeiten der deutschen Invasoren an der sowjetischen Bevölkerung sowie auf eine Million verhungerter Leningrader macht es nicht besser. Dass ein Museum, das antifaschistische Aufklärungsarbeit leistet, ohne einen antisowjetischen Seitenhieb nicht auskommen könne, erschließt sich mir nicht. Es sei daran erinnert: Die Verzögerung der zweiten Front durch die Westalliierten verlangte dem sowjetischen Volk zusätzliche Opfer ab.
Alles in allem: Stephane Grimaldi und seine Mitarbeiter haben Pionierarbeit geleistet. Ich wollte, diese Ausstellung würde in allen deutschen Städten gezeigt. Wenn nicht: Schüler und Lehrer, fahrt nicht nach Hohenschönhausen, fahrt nach Falaise.