„Freier Fall“ und ein Philosophenweg – Winterliche Kontraste im Oberengadin

© Foto: Rainer W. Hamberger
Ähnlich vergleichbare Mutproben gibt es bei St. Moritz mehrere, wenn etwa waghalsige Teilnehmer beim Cresta Run dieselbe Geschwindigkeit erreichen. Ebenfalls nur Männer liegen bäuchlings auf einem Stahlschlitten und rasen mit dem Kopf voraus eine kurvige Eisbahn hinab. Frauen hatte man schon vor Jahren die Teilnahme verboten, weil damit angeblich das Brustkrebsrisiko begünstigt würde. Man ist da eben lieber unter sich. Traditionell wird von den Teilnehmern und beim Event Englisch gesprochen.  Waren es doch Engländer, die nicht nur als erste das Matterhorn bestiegen. Auch hier im Oberengadin leisteten Sie Überzeugungs- und Pionierarbeit im Wintertourismus.

Der Winter im Engadin sei voller Sonnenschein und viel angenehmer als jener in England. Um dies selbst zu erleben, lade er sie in sein Hotel ein. Sollten sie nicht zufrieden sein, übernehme er auch die Reisekosten. Diesen Vorschlag machte der Engadiner Hotelier Johannes Badrutt – Namensvetter des Badrutt`s Palace Hotel – im Herbst 1864 den letzten verbliebenen englischen Sommergästen.

Die Engländer kannten den kalten und feuchten Winter zuhause und konnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es in den Schweizer Alpen anders sein sollte. Solchermaßen angeködert kamen sie schließlich zur Weihnachtszeit ins Oberengadin – und reisten erst nach Ostern wieder ab. Sie waren die ersten Wintertouristen der Alpen. In der Saison 2014/2015 feierte St. Moritz damit sein 150-jähriges Jubiläum im Wintertourismus.
Weisheiten an Wegen durch die Winterwelt

© Foto: Rainer W. HambergerEs knirscht unter den Füßen auf körnigem Schnee. Geruhsam wandern wir auf dem sogenannten Philosophenweg mit der bestmöglichen Aussicht über das Oberengadin. Der Muottas Muragl  ist mit einer Höhe von 2453 Meter der Aussichtsberg für Fußgänger oder Schlittenfahrer. Er ist über eine mehr als 100 Jahre alte Standseilbahn in der Nähe von Pontresina aus zu erreichen. Ein abwechslungsreicher Spaziergang auf dem täglich präparierten Winterwanderweg führt zu den zugefrorenen Wellen des kleinen Bergsees Lej Muragls bis auf 2800 Meter. Kleine Pausen macht man gerne, um Weisheiten bedeutender Philosophen auf zehn Wegmarkierungen zu lesen. Von hier oben zeigt sich der Glanz der winterlichen Hochgebirgswelt besonders eindrücklich. Keinerlei Verkehrslärm, glasklare Luft und glitzernde Eiskristalle auf der Schneeoberfläche, die sanft gewellt wie ein gefrorenes Gemälde die Hänge umschmiegt. Während des gemächlichen Spazierganges begleiten diese Stimmungen das sanfte Fortkommen. Wer es sportlicher mag, kann die 700 Meter Höhenunterschied vom Tal aus auch zu Fuß nach oben bewältigen, oder aber sich an der Gipfelstation einen Schlitten ausleihen und die präparierte Schlittenbahn in Spitzkehren zu Tal sausen. Auch die Genießer sind nicht zu übersehen, die in Pelz- oder Daunenjacken auf der Aussichtsterrasse des Romantikhotels neben der Bergstation mit einem Kaffee oder Longdrink der Wintersonne frönen.  Von hier überblickt man das fast 60 km lange Hochtal mit all seinen Attributen. Von den Bergeller Bergen hinter Maloja reicht der Blick über den Corvatsch und die bis über 4000 Meter hohe Berninagruppe, oder das Tal entlang zu den zugefrorenen und beschneiten Seeflächen der Oberengadiner Seenplatte. Klimatisch begünstigt durch die südliche Lage hat die Region mehr Sonnenstunden als Wintersportgebiete der Nordalpen. Schneefälle ereignen sich in der Regel als Folge von Tiefdruckgebieten über dem Golf von Genua. Dennoch gefährdet der Klimawandel nicht den Wintersportbetrieb, obwohl es die Natur nicht gut meint mit dem Wintersport. Aufgrund der großen Höhe der Pisten zwischen 1800 und 3300 Metern ist es immer möglich, mit Kunstschnee nachzuhelfen. Dabei scheuen die Schweizer den militärischen Begriff der Schneekanonen und sprechen lieber von Schneeerzeugern.

Wertschöpfung mit Sport und Shopping

© Foto: Rainer W. HambergerMit den Freaks und Fans aus England kam viel Geld nach St. Moritz. Man war unter Seinesgleichen, traf sich in exklusiven Clubs, unterhielt hier ein Konto und nebenbei trieb man waghalsige Wintersportarten. Zu Pferd spielt man auch heutzutage Polo auf der Eisfläche der St. Moritzer Sees, Bob- und Crestabahn erfreuen sich großer Beliebtheit. Für das Training auf bestens präparierten Pisten lassen sich private Skilehrer engagieren, und für ein köstliches Mittagsmahl am Rande der Piste gibt es Gourmetlokale. Wenn trotz allen Einsatzes oder aufgrund eines Schneefalltages ein Kontrast ansteht, freuen sich teure Läden mit international bekannten Luxusmarken im Sortiment über Käuferinnen und Käufer. Es wird gemunkelt, dass es meist Artikel für das weibliche Geschlecht sind, die hier erworben werden, wenngleich die Rechnung oft von Herren gesetzten Alters beglichen wird.

So wurde St. Moritz zu einer eigenen Marke, zu einem der exklusivsten Wintersportorte Europas. Dieses auch im Preisniveau erkennbare Image ist jetzt im Wandel. Vom Ort der Reichen und Schönen hin zur Wintersportdestination – ob mit oder ohne Meisterschaften. Damit sind nicht nur große Events gemeint, wie die Austragung der FIS Weltmeisterschaft in der nächsten Saison im Februar. Nein, es sind auch ganz private Ereignisse wie etwa eine Winterwoche mit der Familie in einer gemütlichen Ferienwohnung, oder einige persönliche Skitage verbunden mit der Übernachtung im Hotel. Es muss keine der Luxusherbergen sein, die ihre Gäste am Bahnhof mit dem Rolls Royce abholen. Es gibt behagliche und praktisch gelegene Hotels im Ort mit freier Sicht nach Süden.

Mit ausgeklügelten Marketingmaßnahmen erzielt der Tourismus im Oberengadin eine direkte Wertschöpfung von rund 825 Mio. CHF pro Jahr, was einem Anteil von 68% an der ganzen Wirtschaftsleistung der Region entspricht. Nicht nur der Sport zieht Gäste an. Zahlreiche Galerien und 19 Museen bieten Kunstinteressierten Einblicke in Farbe, Form und Design – dabei sind die Unikate oftmals geprägt von den Urformen der umgebenden Natur, von Granitbuckeln oder knorrigen Arven, auch inspiriert vom harten Leben der Bergbauern aus dem vortouristischen Zeitalter, wie bei den Originalgemälden des Giovanni Segantini.

Nachhaltigkeit –mehr als ein nützlicher Nebeneffekt
© Foto: Rainer W. HambergerAuf vielen weiteren Ebenen bemüht man sich um die Positionierung als Wintersportort, denn die Anzahl der Gästeübernachtungen ist trotz des Klimawandels im Winter höher als im Sommer. Es werden acht Buslinien betrieben, die während eines Kalenderjahres beinahe eine halbe Million Passagiere befördern, oder als kostenlose Skibusse ihre Runden zwischen Hotels und Talstationen drehen. Ein großflächiges Parkhaus steht bereit. Kinderskischulen und Kutschfahrten bieten Familien bezahlbare Abwechslungen. Und das eisenhaltige Heilwasser der  St. Moritzer Mauritiusquelle ist seit 3500 Jahren bekannt. Es wurde bereits von den Römern geschätzt.

Wie vertragen sich nun Luxustourismus, Weltmeisterschaften und Beschaulichkeit? Alles hat hier seinen Stellenwert und existiert parallel und unabhängig voneinander. Dabei gibt es im Oberengadin mehr sportliche Vielfalt als z. B. in Zermatt, denn es stehen große Seeflächen im Winter zur Verfügung für den jährlichen Skilanglaufmarathon Anfang März, oder für Skijöring über das Eis, bei dem man auf Skiern Pferden hinterhersaust. Wenn nun nächstes Jahr das große Event stattfinden wird, verbessern die investierten 15 Millionen Schweizer Franken nachhaltig die Infrastruktur und Basis für den Ort und sichern damit Einkommen für zahlreiche Beschäftigte im Gastgewerbe. Alleine für die betreuenden Teams stehen dann 4500 Betten im gesamten Oberengadin zur Verfügung und es werden 200.000 Zuschauer erwartet. Durch die hohe Identifikation mit dem Ereignis beteiligen sich 1300 Freiwillige am Gelingen. Sie erhalten lediglich Übernachtung und Verpflegung.

Es ist laut in der Ortsmitte. Das Zentrum ist für Fahrzeuge gesperrt. Gepolsterte Matten säumen einen Straßenzug. Scheinwerfer beleuchten alles nach Einbruch der Dunkelheit, und eine Kameradrohne fliegt über dem Szenario. Dann bricht Jubel aus. Ein Einheimischer hat die City Race gewonnen, die zum Saisonauftakt in der Ortsmitte veranstaltet wird. Wenngleich es nur ein paar Kurven sind, so geht es richtig zur Sache im engen Slalomkurs, und so mancher Teilnehmer landet mit angeschnallten Skiern im Fangnetz über dem Ziel. Es jubeln die Freaks, es rücken sich exotische Zuschauer aus fernen Ländern ihre Pelzmützen zurecht, es ist nur schade für manch weit hergereisten Gast, dass die Uhren- und Schmuckgeschäfte in der Parallelstraße gleich schließen werden. Seine Begleiterin interessiert sich eher dafür. Aber morgen ist ja auch noch ein Tag – in der Einkaufsstraße oder in der reinen Luft auf dem Philosopenweg.
Informationen:

Über Wintersportevents, Unterkünfte, und Aktivitäten informiert die Tourismus Organisation Engadin St. Moritz, www.engadin.stmoritz.ch; wer mehr als eine Nacht in einem Hotel bucht, welches „Hotel und Skipass“ anbietet, erhält den Skipass für CHF 35.-. Das Angebot gilt pro Person und Tag für alle Oberengadiner Bergbahnen und die gesamte Aufenthaltsdauer in Engadin St. Moritz.

Es gibt eine große Bandbreite von Übernachtungsangeboten zwischen einfachen Quartieren, Ferienwohnungen und Luxushotels; angemessene Preise hat z. B. das Hotel Schweizerhof im Ortszentrum, jedoch sehr ruhig gelegen mit Aussicht nach Süden über den St. Moritzer See zum Corvatsch; www.schweizerhofstmoritz.ch; allgemeine Informationen zu Schweizer Ferienzielen gibt es unter der kostenfreien Telefonnummer 00800 100 200 30, sowie unter www.MySwitzerland.com
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