Statt des Kandidaten Jamal geraten die Leiter der Quizsendung ins Schwitzen. Bei dem Erfolg des Außenseiters aus dem Armenbezirk in dem Millionengewinnspiel kann es nicht mit rechten Dingen zugehen. Kurioserweise kennt der zum Favoriten des Showpublikums avancierte Jamal einerseits die komliziertesten Antworten. Andererseits fehlt ihm das simpelste Allgemeinwissen. In der Nacht auf dem Polizeirevier, auf welches er von Betrug witternden Beamten gebracht wurde, beginnt der Junge aus dem Ghetto zu erzählen. Wie es dazu kam, dass er den Mann auf dem Hundertdollarschein kennt, aber nicht Mahatma Ghandi und mehr über Filmstars weiß als über Weltliteratur. Die Geschichte führt zurück zu seiner Kindheit als Waise im Armenviertel. Mit seinem Bruder Salim (Madhur Mittal) entkam er dem unmenschlichen Führer einer Bande von Bettelkindern, Verbrechern und der immer drohenden Armut. Stets auf der Suche nach der einen, welcher er als Kind begegnete und die er seitdem liebt: Latika. Das schöne Mädchen verliert und findet Jamal ein ums andere Mal im Laufe seines jungen Lebens. Sie will er noch mehr gewinnen als die Millionen. Doch dazu muss er eine letzte Frage beantworten, wenn er die Gelegenheit dazu bekommt. Denn neben Geld steht auch das Leben des Liebespaares auf dem Spiel.
Zu Anfang sieht man den kleinen Jamal über und über mit Exkrementen beschmiert einer Jauchegrube entsteigen. Den Sprung hinein hat er auf sich genommen, um das Autogramm eines Schauspielers zu ergattern. Mit Hilfe seines Wissens über diesen beantwortet er Jahre später eine Frage bei dem Millionengewinnspiel. Sogar aus Scheiße kann man Geld machen. Das wissen Filmproduzenten vermutlich noch besser als Düngemittelfabrikanten. Mit einem hektischen Bilderrausch nimmt “Slumdog Millionair” sein Publikum gefangen. Die guten Darsteller, allen voran Anil Kapoor als schmieriger Moderator, lassen ihre Filmcharaktere sprühen vor Leben. Hat man jedoch den Kinosaal und den Farbrausch der Szenen verlassen, weicht der positive Eindruck einem kritischen. All zu leicht entrinnen Jamal und Selim jeder gefährlichen Situation. Ob Kinderhändler, folternde Polizisten oder Gangsterboss – niemand kann den Helden klein kriegen. Sogar den Sturz von einem fahrenden Zug überstehen er und sein Bruder als Kinder unverletzt. Hauen sie zu fröhlicher Popmusik ausländische Touristen übers Ohr oder stehlen sich Kleidung und Essen zusammen, gleicht das im buchstäblichen Sinne einem Kinderspiel. Ihr Überlebenskampf wirkt somit unglaubwürdig. In Grossaufnahme zeigt die Kamera die Münzen, welche die Hände des kleinen Jamal zählen. “A Mark, a rupee or a pound – money makes the world go round!” Das dachten sich anscheinend auch die Macher von “Slumdog Millionair”. Seine Problematik beutet der Film mehr aus, als sich ihr ernsthaft zu widmen. Wie Jamals Bruder fragt sich der Zuschauer, warum der Hauptcharakter unablässig nach Laika sucht. Die Liebe der beiden wird als gegeben hingestellt. Plausibel machen sollen sie bestenfalls rührselige Bilder.
Kinderprostitution, Hunger, Armut sind nur einige der Themen, die in “Slumdog Millionair” einen Kurzauftritt erleben. Regisseur Danny Boyle packt manches heiße Eisen an, um es zur Enttäuschung der Zuschauer wieder fallen zu lassen. An der brisanten Handlung seines Werks hat er sich die Finger verbrannt. Blickt man unter die schillernde Oberfläche, enthüllt sich manch schmutziges Detail. Dies gilt nicht nur für die Handlungsstätte Mumbai mit seiner facettenreichen Kultur und bitteren Armut. Auch “Slumdog Millionär” romantisiert die Existenz seiner Figuren. Tatsächliches dramatisches Potential können sie nicht entwickeln. Das Geld scheint hier auf der Straße zu liegen. Warum sich überhaupt beklagen? From rags to raja, vom Armen zum Radscha, wie es der Moderator des Fernsehquiz formuliert, kann es selbst ein Slumkind bringen. Einem kunterbunten Bollywoodabenteuer, bei dem Romantik und mitreißende Musik nicht fehlen dürfen, steht der Film näher als einem ernsthaften Drama. Geradezu höhnisch sind die als Quizfrage formulierten Anfangs- und Endtitel: Warum gewinnt Jamal die Millionen? Es steht so geschrieben. Keinesfalls im Buch des Schicksals, sonder dem der Drehbuchautoren.
Zur Kernfigur wird der heuchlerische Moderator. Nuanciert von Anil Kapoor zwischen Machtmensch und Egozentriker angelegt, ist er dennoch verführerisch. Das Publikum seiner Sendung manipuliert er geschickt, gleiches versucht er bei Jamal. Genauso umgarnt “Slumdog Millionair” die Kinozuschauer. Von großer Geste und vorgetäuschten Emotionen sollte man sich jedoch nicht blenden lassen. Der vermeintliche Geheimtipp des Fernsehstars entpuppt sich in “Slumdog Millionair” als Irreführung. Für Danny Boyles Film gilt das gleiche.
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Titel: Slumdog Millionair
Kinostart: 19. März 2009
Regie: Danny Boyle
Drehbuch: Simon Beaufoy
Darsteller: Dev Patel, Madhur Mittal, Freida Pinto
Verleih: Prokino
Internet: www.prokino.medianetworx.de