Berlin, Deutschland (Weltexpress). Spionagegeschichten machen sich immer gut, weil so viele Fantasien damit verbunden sind und man sie nutzen kann, um Angst einzujagen. Aber wie überall steckt der Teufel im Detail. Und auch hinter dem Prozess, der jetzt in Berlin begonnen hat, könnte etwas ganz anderes stecken.
Spionageprozesse in der heutigen Bundesrepublik haben immer etwas Eigenartiges an sich. So wie der Düsseldorfer Prozess, in dem es unter anderem um den Verzehr belegter Brötchen in der russischen Botschaft ging. Nun läuft ein neues Verfahren, diesmal in Berlin, und wieder klingt einiges daran komisch.
Wobei man dazu sagen muss, dass ohnehin das meiste im Bereich von Vermutungen bleiben muss, weil die Bundesanwaltschaft es geschafft hat, die entscheidenden Teile der Anklageschrift, nämlich, welche geheimen Dokumente die beiden Angeklagten denn jetzt an einen russischen Dienst verkauft haben sollen, nicht öffentlich zu verlesen – weil es eben um Staatsgeheimnisse gehe.
Angeklagt sind ein 53-jähriger Referatsleiter beim BND namens Carsten L. und ein 32-jähriger Geschäftsmann namens Arthur E. Ersterer soll nach seiner Karriere bei der Bundeswehr bis zum Oberst seit 2007 beim BND gearbeitet haben, zuletzt als Leiter des Referats personelle Sicherheit. Eine Referatsleitung ist, das sollte man dazusagen, in der Regel bereits eine politische Position, die nach Parteibuch vergeben wird, und bei jenen Mitarbeitern, die in Pullach verblieben sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um das der CSU handelt.
Die Geschichte, die erzählt wird, klingt ziemlich abenteuerlich, von abfotografierten Bildschirmen über geheime Übergaben im Voralpenland und in Istanbul bis hin zur Bezahlung in bar, die in Umschlägen eingeschmuggelt worden sein soll: hübsch, aber eigentlich wenig relevant. Über die Daten, die so sensibel gewesen sein sollen, existieren nur Gerüchte. Der Spiegel hatte jüngst vermutet, es sei um die Information gegangen, dass der BND den internen Chat von Wagner mitgelesen habe. Daraufhin sei diese Kommunikation auf einen anderen Kanal verlegt worden.
Aber nun zu den Seltsamkeiten. Zum einen: Was an der Wagner-Geschichte stört, ist, dass die normale Reaktion, gesetzt den Fall, eine derartige Information liegt vor, mitnichten darin besteht, die Kommunikation zu verlagern, zumindest nicht sichtbar. Im Gegenteil, man lässt es weiterlaufen und macht sich die Tatsache zunutze, über einen Kanal zu verfügen, auf dem man den Gegner mit den Informationen füttern kann, die man ihm füttern will. Wer meint, ein Abschalten wäre das übliche Verfahren, sollte noch einmal nachlesen, wie die Briten mit der Entschlüsselung des Enigma-Codes umgegangen sind.
Dann kam die Information, die die Festnahme auslöste, von einem „befreundeten Dienst“. Mehr noch, der Mitangeklagte E. soll sich nach einer Aussage seiner Verteidigung, die die Süddeutsche Zeitung zitiert, „bei einer Reise in die USA beim Zoll als ‚Quelle des BND‘ zu erkennen gegeben“ haben und sei daraufhin dort verhört worden. Er habe sich freiwillig entschieden, nach Deutschland zurückzukehren. E. ist der Ursprung der ganzen Erzählung um Handyfotos und zugeklebte Umschläge. Das ist der zweite Moment, an dem „befreundete Dienste“ auftauchen.
Auf dem Rechtsportal LTO wird dann aus einem Schreiben zitiert, das L. an D. in der Haftanstalt in Moabit geschickt oder zumindest zu schicken versucht haben soll, in dem er schrieb, er denke „sogar über ein Komplott von US- und ukrainischen Geheimdiensten nach, um den BND bloßzustellen“.
Die Festnahme von L. war am 21. Dezember 2022 erfolgt. Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass es am 26. September jenes Jahres, nicht ganz zwei Monate davor, zum Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines gekommen war, ein Vorfall, der nach allen Kriterien ein kriegerischer Akt gegen Deutschland gewesen war. Und dass der BND später genutzt wurde, um das Märchen vom Segelboot Andromeda zu lancieren.
Die Geschichte mit dem überwachten Wagner-Kanal ist noch aus einem anderen Grund unstimmig. Die Referate gehen mitnichten fließend ineinander über; inzwischen ist, wie schon allein der Arbeitsort Pullach belegt, das Referat personelle Sicherheit sogar räumlich vom größten Teil des BND getrennt, der in Berlin sitzt.
Dieses Referat ist gewissermaßen der Geheimdienst im Geheimdienst; seine Aufgabe besteht darin, das eigene Personal zu überprüfen. Sofern die Geschichte mit dem überwachten Wagner-Kanal überhaupt stimmt, handelt es sich dabei um ein operatives Detail aus einer völlig anderen Abteilung, von dem ein Referatsleiter für personelle Sicherheit höchstens dann erfahren hätte, wenn der Leiter des zuständigen Referats bei einer Referatsleiterkonferenz vor lauter Stolz darüber geprahlt hätte.
Die behaupteten 450.000 Euro sind für diese Information auch etwas viel, wobei sich natürlich die Frage stellt, ob es sie überhaupt gegeben hat. Auch, dass der Kontakt zum FSB und nicht zur russischen Auslandsaufklärung SWR erfolgt sein soll, macht stutzig. Schließlich ist es rund um den Globus ungern gesehen, wenn sich ein Dienst in den Bereich eines anderen einmischt, was L. im Laufe seiner Militärkarriere mit Sicherheit zwischen BND und MAD live beobachten konnte, deren Zuneigung legendär ist.
Irgendwie macht die Kombination zwischen dem Datum, dem „befreundeten Dienst“ und dem Verantwortungsbereich von L. nachdenklich. Denn Teil dieses Aufgabenbereichs ist es, jene Mitarbeiter aufzuspüren, die einen zweiten Dienstherren haben. Und die Vorstellung, dass deutsche Sicherheitsorgane vollständig, gewissermaßen bis zum letzten Mann, im Interesse der Vereinigten Staaten arbeiten, auch nach Nord Stream, geht fehl. Was aber wäre die natürliche Reaktion einer Person in der Position von L. gewesen, die nicht für US-Interessen arbeitet, nachdem die Hauptverdächtigen für den Anschlag die Vereinigten Staaten waren? Sich mit genau einer Frage zu befassen: Wer sind die US-Agenten innerhalb der eigenen Behörde?
Genau das, eventuell mit einer kleinen Erweiterung in die Politik, wäre übrigens eine Information, die tatsächlich so viel Geld wert wäre. Weil sie ein Gegensteuern nicht auf dem kleinen Schlachtfeld Artjomowsk ermöglichen würde, sondern auf dem großen globalen. Aber auch wenn die ganze Russland-Geschichte erfunden sein sollte, ein Engagement „befreundeter Dienste“, um eine derartige Untersuchung zu beenden, klingt plötzlich durchaus plausibel.
Als 1990 die von der Hauptabteilung Aufklärung der DDR gesammelten Informationen über US-Agenten in der Bundesrepublik von der BND-Führung ungelesen an die USA übergeben wurden, stieß das nicht in der gesamten Behörde auf Wohlwollen. Derartige Apparate sind sehr träge; es ist durchaus vorstellbar, dass auch der grinsende Landesverrat durch Bundeskanzler Olaf Scholz nicht nur Anhänger hat.
Oder andersherum: Aus der Sicht der Vereinigten Staaten hat die Aufrechterhaltung der Kontrolle absolute Priorität. Ist es unvorstellbar, dass man eine Abenteuergeschichte konstruiert, um zu verhindern, dass der eigene Zugriff auf die deutschen Sicherheitsorgane gefährdet wird? Ganz ehrlich, auf der Skala der CIA wäre ein fingierter Spionageprozess noch ein mildes Mittel; ein plötzliches unerwartetes Versterben entspräche eher der Norm. Vielleicht besteht die Erwartung, dass der Angeklagte mitteilt, wer sonst noch aus US-Sicht unzuverlässig sein könnte, oder der Zusatznutzen, eine weitere Gruselgeschichte über Russland erzählen zu können, gab den Ausschlag.
Wäre es wirklich so vermessen, davon auszugehen, dass es in deutschen Behörden Mitarbeiter gibt, die im Falle einer direkten Kollision deutscher und US-Interessen als deutsche Patrioten handeln? Sicher, das ist erst einmal nur ein Gedankenspiel, das sich auf Indizien stützt. Aber der unerklärte Kriegszustand zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland, die finstere Wahrheit hinter der „Freundschaft“, hat auf jeden Fall die Konsequenz, dass auch innerhalb des Apparats eine Auseinandersetzung stattfindet, die nicht immer und überall im Verborgenen bleiben wird. Womöglich ist das erste Stück jetzt sichtbar geworden.
Anmerkung:
Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn wurde am 15.12.2023 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.