61. BERLINALE: Finanz- und Wirtschaftskrise im Kino – „Margin Call“ lockt mit großartigen Schauspielern zu einem brandaktuellen Thema, das an der Wall Street begann

Kevin Spacey in einer Szene in "Margin Call"

Der Begriff Margin Call ist als ein Notruf, ein Schrei nach Hilfe, ein Aufruf, Sicherheit zu leisten, zu verstehen. Dieser Warnhinweis im Devisenhandel wird vom Broker in diesem Fall nicht an Händler gegeben. Im Gegenteil: die Kontrollmechanismen greifen nicht, das Modell versagt.

Im Film nun, rechnet eine graue Angesellten-Maus des Risikomanagements mal nach. Eric Dale (gut gespielt von Stanley Tucci) fällt auf, daß da was nicht stimmt. Er ahnt, daß die Kapitalisten, die für Profite über Leichen gehen, längst hätten mehr Pfand hinterlegen müssen, als sie haben. Die Margin wurde unterschritten. Für die Termingeschäfte dieser New Yorker Broker gibt es keine Sicherheiten mehr, die ausreichen würden.

Der Thriller von Regisseur JC Chandor, der in den Metropolen des Monetarismus, in New York und London, aufwuchs, spielt vor dem Hintergrund der internationalen Finanzkrise von 2008 und zeigt wie in einem Kammerspiel den Seelensumpf der Akteure, die in den Büros einer bedeutenden Investmentbank die letzten 24 Stunden vor dem Crash managen müssen, dabei vor dem Eingeständnis des finanziellen Bankrotts stehen, und ihre Firma am eigenen Schopf rausziehen müssen aus dem Untergang, der der Konkurrenz verschwiegen wird.

Doch zuvor muß noch ein Twen Hinterlassenschaften seines frisch gefeuerten Kollegen sichten, er kann nicht anders, weil der ihm den entscheidenden Hinweis auf einen Datenstick, mit dem Vermerk vorsichtig zu sein, zusteckt. Nach dem Motto "no Risk, no Fun" handelt Peter Sullivan (der Schauspieler Zachary Quintop agiert in seiner Rolle überzeugend) auch dieses Mal. Nach Feierabend folgt er der gelegten Spur, denkt und rechnet weiter. Schlagartig wird dem jungen Analysten klar, daß die Bewertungen, auf denen das Geschäftsmodell dieser, seiner Firma beruht, fehlerhaft sind, und daß die Aktiva im Hypothekengeschäft nicht jenen Wert besitzen, der in den Büchern ausgewiesen ist. Die Firma steht am Rand des Ruins.

Die Nacht der langen Messer bricht an, der Krimi wird zum Drama. Im Laufe der nächtlichen Stunden werden die wichtigsten Mitarbeiter zurück an die Schreibtische befohlen. Die Einsicht der Firmenführung, die zusammengekommen ist, um die Bank zu retten, daß man am Ende ist, schleicht sich ein. Zu den Oberbosssen der Wall Street Broker gehörten der erfahrene Börsianer Sam Rogers (Kevin Spacy liebt als Langgedienter seine Firma offensichtlich weniger als seinen im sterben liegenden Hund und überzeugt als Mime im Management). Als Erfolgsfrau im Männermanagement zeigt Risikoanalysten Sarah Robertson (Demi Moore besetzt diese Position prächtig) wie das Häschen hoppelt, wenn es oben schwimmen will.

Zu ihnen gesellt sich Firmenchef John Tuld (klar, kalt, jedoch intensiv und mit der gehörigen Portion Zynismus dargestellt von Jeremy Irons). Mit dem Hubschrauber schwebt er auf dem Wolkenkratzer ein und anschließend über allem. Er ist es nämlich, den einen barbarischen Rettungsplan entwirft: sobald am Morgen die Börse öffnet, sollen sämliche Giftpapiere abgestoßen werden. Verkaufen, zu jedem Preis. Dieser Schachzug, nämlich der erste Stein zu sein, der alle anderen anstößt, die der Reihe nach wie beim Domino fallen, hinterläßt – wir wissen es – verheerende Folgen.

Dazu Spielfilmdebütant JC Chandor: "Im September 2008 starb die unabhängige us-amerikanische Investmentbank, wie wir sie kannten. In meinem Film versuche ich, an den Erfahrungen einer kleinen Gruppe von Menschen Anteil zu nehmen, die sich im Mittelpunkt der Finanzkrise befinden, ohne daß ihnen das überhaupt klar wird. Die Maschine, von der sie ein Teil sind, ist derart groß und komplex geworden, daß niemand die zerstörerische Macht begreifen konnte, die von ihr ausging. Bis es zu spät war."

Daß kann man so sagen, wenn man so denkt, und dann einen solchen Film produzieren. Man kann aber auch Anteil an einer großen Gruppe von Menschen nehmen, die sich im Mittelpunkt der Finanzkrise bedinden: den Belogenen und Betrogenen, die wie Hunde behandelt werden. Symbolisch gräbt Sam Rogers im hauseigenen Vorstadtgarten die Grube, um – nein, nicht den Kapitalismus – sondern seinen  toten Hund zu beerdigen.

Bewertung: * * * *

Buch und Regie: JC Chandor

Darsteller: Kevin Spacey, Paul Bettany, Jeremy Irons, Zachary Quinto, Demi Moore, Penn Badgley, Simon Baker, Mary McDonnell, Stanley Tucci, Aasif Mandvi, Ashley Williams, Susan Blackwell, Maria Dizzia, Jimmy Palumbo, Al Sapienza, Peter Y. Kim

Kamera: Frank G. Demarco

Produktion: Befor The Door Pictures, Los Angeles/USA

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