Deutsche Invasion in Italien

Cinque Terre.
Bunte Häuser an grünen Hängen im italienischen Cinque Terre. Quelle: Pixabay

München, Deutschland (Weltexpress). Pünktlich eine Woche vor den Pfingstferien tituliert der Corriere della Sera: „Italien kämpft mit der Pest mit Bierbauch“. Deutsche Urlauber fallen über die bis dahin dämmernden Badeorte her wie einst die Hunnen über das Römische Reich. Und da der herkömmliche Deutsche inzwischen afrikanische Küsten und islamisch geprägte Badeorte wie Bodrum oder Antalya meidet, bleibt ihm nicht viel mehr Auswahl. Italien ist nun das Ziel aller Urlaubsträume.

Nun leben meine Verwandten nicht an einem der überfüllten Badestrände von Rimini, Grado oder Caorle, sondern in einem der unzugänglichen Hänge des Cinque Terre. Ligurien. Der traumhaft schöne Landstrich ist eine Enklave für reisende Individualisten mit Fachabitur, die über die pittoresken Dörfer Manarola, Vernazza oder Monterosso wie die hiob’sche Heimsuchung herfallen. Sie sind Ziele für Studiosus Reisende, ökologisch geschulte Entdecker und militante Naturschützer. Sandige Buchten, verträumte Strände und kilometerlange Promenaden? Fehlanzeige! Tanga-Schönheiten oder barbusige Blondinen, Stringtangas und von sengender Sonne knusprig getoastete Hinterteile sind die Ausnahme. Stattdessen Steilwände, Felsenstürze und Dörfer, die sich wie Schwalbennester in die Steilhänge krallen.

Cinque Terre wird von Authentizitätsfanatikern heimgesucht. Sie kommen Schiffsweise – ab jetzt vier Monate lang täglich, im Dreißig-Minuten-Takt. Auch sonntags. Zahlende Schierlingsbecher in Kohortenstärke! Unter ihnen Helge, ein romanophiler Berufsschullehrer mit Hang zum Typischen und Unverfälschten. Er hat den Reiseführer mit einem gelben Marker durchgearbeitet sowie Begleitliteratur für Wandertouren mitgenommen. Als Lateiner fürchtet er nicht einmal regionale Dialekte. Selbstredend hat er „den kleinen Sprachführer“ dabei – für Notfälle – falls der Fischer aus Monterosso beim Plusquamperfekt Konjunktiv des unregelmäßigen Verbs „audire“ verwirrt den Kopf schüttelt. Helge ist stets auf der Suche nach dem finalen Ursprung, nach dem unberührten Ort, wo der Einheimische noch völlig unbefingert von teutonischer Neugierde arbeitet, wohnt, lebt und liebt, wie er es seit ein paar Tausend Jahren tut. Schon aus diesem Grund haben sich meine Verwandten einen bissigen Hund und einen drei Meter hohen Zaun rund ums Grundstück angeschafft.

Helge kennt zwar nicht das unwegsame Sträßchen zum Haus meines Onkels, aber dafür – und bereits vor seiner Ankunft, die örtlichen Sitten und Gebräuche wesentlich besser als jeder Einheimische. Er weiß auch, wie sich die lokalen, politischen und wirtschaftlichen Probleme des unzugänglichen Landstrichs am ehesten lösen lassen. In Sachen Kochrezepte der regionalen Küche und der Beurteilung heimischer Weine übertrumpft er sogar Mama Rosetta aus Viareggio. Helge findet alles, weiß alles, kann alles! Er durchstreift die einsamsten Winkel seines Urlaubsgebietes, kehrt sogar in Locandas ein, in denen nicht einmal mein Hund essen würde.

Er ist der typische Alleinreisende, sitzt wie alle anderen genussfreudigen Urlauber auch, in einem der zahlreichen Cafes und bestellt in perfektem italienisch eine Latte Macchiato. Mitleidig belächelt er seine in Scharen vorbeiziehenden Landsleute und dreht sich eine Zigarette aus heimischer Produktion. Im rhythmischen Takt pendelnder Ausflugsschiffe wälzen sich gewaltige Wogen verschwitzter Leiber durch die engen Gassen von Vernazza, reißen alles nieder, was nicht gemauert oder angeschweißt ist, um nach einer halbstündigen Stadtdurchflutung in die Bestuhlung der Cafes an der Piazza zu schwappen. Es verbleiben den schwitzenden Teutonen knappe zehn Minuten, um eine Cola für Sechs Euro fuffzich hinunter zu stürzen und sich dann in die endlose Warteschlange an der Hafenmole einzureihen.

Kurz bevor sich Helge einschifft, findet er Dank untrüglicher Spürnase in einer düsteren Seitengasse einen unscheinbaren Kellerladen mit grellbunt bemalten Tonschälchen. Allerdings war ihm entgangen, dass kurz zuvor eine Splittergruppe mit Jutetaschen versehener Birkenstockträgerinnen die Bude restlos gefleddert hatten. Ein unscheinbarer Teller, handbemalt und in krakeliger Schrift vom Künstler signiert, lehnt in einer düsteren Fensternische. Zweifellos ein vergessenes Kleinod aus dem 18.ten Jahrhundert.

Er kauft, zahlt freudig einen unverschämten Preis für das einzigartige Exemplar südländischer Handwerkskunst. Das Lächeln eines souveränen Insiders umspielt seine Lippen, als er die Rarität in seiner Tasche verstaut, während Salvatore Moneti, gleich, nachdem Helge die düstere Tonschalenkatakombe verlassen hatte, für die nächste Ladung entdeckungshungriger Urlauber eifrig die Bestände mit „echt“ antiken Schalen und Vasen auffüllt.

Helge hat keinen Bierbauch, in diesem Punkt widerspreche ich dem Corriere. Er ist ein ruhiger und verträglicher Zeitgenosse, gebildet und informiert. Trotzdem regt er sich über das Coperto auf, weil er in einer vermeintlich preiswerten Osteria an einem blanken Holztisch Spaghetti al’ Olio und ein Acqua Minerale für 29 Euro konsumierte. Geschickt lässt er Besteck, Zahnstocher und Salzstreuer in seinen Tragebeutel gleiten und verschwindet ohne Trinkgeld zu hinterlassen in einer Reisegruppe aus Japan.

Doktor Laszlo Hrdlìzkca, Hobbyethnologe geboren in Wiener Neustadt und seit 40 Jahren in Wanne Eickel lebend, erreicht soeben mit Familie – freudig erregt – die Stadtgrenze von Vernazza. Er hat die für Touristen gesperrte Landstraße unbehelligt und trotz Androhung saftiger Strafen unentdeckt bewältigt. Jetzt versteckt eilig seinen überdimensionalen Campingbus im örtlichen Parkhaus. Er lacht sich ins Fäustchen, weil er einem schläfrigen Posten der Carabinieri ein Schnippchen geschlagen hat. Er konnte nicht ahnen, dass der Carabiniere ein entfernter Verwandter des Parkhausbesitzers ist und sein Schläfchen nur vorgetäuscht hat. Jetzt grinst er zufrieden in sich hinein.

Im Hochgefühl anstehender Stadtbesichtigung treibt Hrdlìzkca seine Frau und drei halbwüchsige Gören in Richtung Hafen. Sich richtig Zeit nehmen, heißt seine Devise, völkerkundliche Besonderheiten und Rieten begutachten, den romantischen Hafen mit seinem urwüchsig-pittoresken Charakter durchstreifen und das Hochgefühl auskosten, einen mediterranen Geheimtipp ungestört besichtigen zu können. Noch ahnt er nicht, dass der kleine Stadtkern von Vernazza wegen des touristischen Ansturms zu Fuß kaum zu durchdringen ist. Er weiß auch noch nicht, dass die Gebühren des Parkhauses für sein Wohnmobil der Marke „Big Traveller“ etwa zwei Drittel des jährlichen Gemeindehaushaltes von Vernazza ausmachen und der Carabiniere am Ortseingang Provisionen bezieht.

Ab 19 Uhr 30 kehrt Ruhe ein. Doktor Laszlo Hrdlìzkca sitzt völlig erschöpft mitsamt seiner missmutigen Familie in einem der verwaisten Straßencafes. Das letzte Schiff der weißen Flotte pflügt mit sechzehn Knoten und teutonischem Ballast dem Heimathafen Livorno entgegen. Nur Laszlo samt Anhang muss in der Stadt bleiben, weil er am nächsten Morgen eine telegraphische Geldanweisung seiner Bank erwartet. Er konnte Big Traveller im Parkhaus mangels ausreichender Deckung seiner Kreditkarte nicht auslösen.

Lauer Wind säuselt über die Hafenmole. Man spricht nur noch italienisch. Auf der Piazzetta kosten Montepulciano rosso und Espresso wieder halb so viel wie tagsüber, der Einheimische kann durchatmen und Herr Hrdlìzkca wird einen Kleinkredit der Übernachtungskosten wegen bei seiner Sparkasse in Wanne-Eickel aufnehmen müssen.

Anmerkung:

Vorstehender Beitrag von Claudio Michele Mancini wurde im Scharfblick am 21.5.2018 erstveröffentlicht.

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