Das Paradies ist nicht auf Erden und auch nicht auf Hawaii – George Clooney in „The Descendants – Familie und andere Angelegenheiten“

Die Missverständnisse beginnen ja schon oft da, wenn Menschen dort wohnen, wo andere Urlaub machen. In diesem Fall ist es Hawaii. Eine durch geerbte Ländereien wohlhabende Familie, der Vater vielbeschäftigter Anwalt, die Mutter und die beiden Töchter leben ein – wie man so schön sagt – "unbeschwertes" Leben auf der Insel Hawaii, bis die Mutter mit einem Powerboot einen Unfall hat und ins Koma fällt. Nun ist der Vater gefragt und selbstverständlich mit den beiden Töchtern (17 und 10 Jahre alt) überfordert. Die Kleine zeigt ihm des öfteren den Mittelfinger, die große Tochter hat ein Drogen- und Alkoholproblem und wurde deshalb ins Internat auf einer Nachbarinsel untergebracht.
Bei einem abendlichen Überraschungsbesuch im Internat, um sie nach Hause zu holen, trifft der Vater seine Tochter betrunken im Garten der Schule an, obwohl sie schon längst im Bett liegen müsste. Clooney spielt diesen hilflosen, überforderten Vater mit einer gewissen Selbstinorie, hat keine Angst vor unvorteilhaften Nahaufnahmen, bei denen er unrasiert, ungekämmt und meist zerknittert, verquollen und in schrecklichen Hawaii-Hemden und Badelatschen daher kommt. Wer bis dahin dachte, Clooney sei dieser Mister Cool, der lachend und scherzend durchs Leben geht, sieht in diesem Film einen Clooney, der seine eigenen Schwächen und Unvollkommenheiten einsetzt, und eine Rolle so wunderbar ausfüllt, dass einem wahrhaft die Spucke wegbleibt. Er lässt sich von seinen Töchtern beschimpfen, muss zugeben, dass er sie gar nicht kennt und als seine fast erwachsene Tochter ihm in brutalster Weise offenbart, dass er von seiner Frau, ihrer Mutter, betrogen wurde, werden sie urplötzlich zu Kumpels, zu Gesinnungsgenossen. Den betrogenen Ehemann, der einerseits ohnehin aus Sorge um seine Frau um Fassung ringt, bekommt den nächsten buchstäblichen Schlag in die Magengrube, dass eben diese Frau ihn nicht nur betrog, sondern ihn gar wegen des Liebhabers verlassen wollte – diesen Matt King  spielt Clooney so überzeugend, als sei ihm die Rolle auf den Leib geschneidert. Man nimmt es ihm ab und man leidet mit ihm.

Während des gesamten Films zeigt der Regisseur nicht ein einziges Mal Hawaii mit strahlend blauem Himmel. Denn auch diese Jahreszeiten gibt es Urlaubsparadies. Schwere feuchte Luft, der Himmel verhangen mit Regenwolken, die in den Baumspitzen hängen. Das Meer ist grau, der Strand verlassen. Der Pool des Hauses mit braunen Blättern verdreckt, die Straßen meist nass, die Wege matschig. Es werden keine Surfer gezeigt und die Skyline der Stadt ist nicht mit weniger Beton gebaut als Frankfurt am Main, Chicago oder Madrí­d. Die Großmutter der Mädchen, die Mutter der verunglückten Ehefrau, leidet an Demenz und gerät in freudige Aufregung darüber,  dass ihre Tochter im "Queen Elizabeth-Krankenhaus" liegt, was sie gar nicht versteht. Verstehen tut sie nur, dass sie sich für einen Besuch bei der Queen fein machen muss, weil sie vorher noch nie eine Königin getroffen habe. Der Großvater schlägt dem Freund seiner Enkelin ein blaues Auge, weil dieser darüber lacht,  der vorher noch nie eine Demenzkranke gesehen hat. Auch die Sache mit der Patientenverfügung kommt zur Sprache. Die nämlich hat die Verletzte unterschrieben und so entscheiden die Ärzte, die lebenserhaltenden Maßnahmen abzustellen, weil der Hirntod festgestellt wurde. Ab dieser Entscheidung bleiben der Familie noch 2 Tage, sich zu verabschieden.

Der Anblick der Komapatientin ist nicht schön und wird auch nicht beschönigt. Der Zuschauer sieht sich mit der Situation konfrontiert ebenfalls durch Nahaufnahmen, die all das zeigen, was wir eigentlich lieber nicht sehen würden. Aber es wird niemals unangenehm, denn Vater und Töchter versuchen die letzten Tage im Krankenhauszimmer die Mutter und Ehefrau in ihre Gespräche mit einzubeziehen. Eine Art von unsentimentaler Normalität erfasst einen, wenn im Krankenzimmer diskutiert, gestritten wird und wenn die zurückbleibenden Familienmitglieder sich mit der sich aus dem Leben entfernenden Mutter und Ehefrau, auseinandersetzen, ihr gar  Vorwürfe machen. Wie sie versuchen,  auf diese Art mit dem Schock und dem bevorstehenden Verlust irgendwie fertig zu werden.

Noch viele andere Aspekte des Lebens werden in diesem wunderschönen Familiendrama angesprochen. Schwere Themen, aber mit Leichtigkeit – keinesfalls mit Oberflächlichkeit – gemeistert. Ganz zum Sc hluss gibt es  sogar noch einen Fingerzeig an die Tourismus-Industrie. Als nämlich der längst beschlossene Verkauf des letzten Landbesitzes der Familie an einen Investor verkauft werden soll, der dort Hotels und Ferienanlagen bauen will, noch einmal von dem jetzt allein erziehenden Vater überdacht wird, der als Treuhänder eingesetzt wurde. Im letzten Moment verweigert er seine Unterschrift, weil er sich überlegt hat, dass nicht jedes Stück Land in einer touristischen Umgebung "genutzt" werden muss. Dass der Reiz eines Urlaubsorts auch in einer unberührten, naturbelassenen Landschaft liegt und dass Geld alleine nicht glücklich macht, wie er am eigenen Leib erfahren hat.

Es ist ein wirklich berührender Film, den der Regisseur Alexander Payne hier auf die Leinwand gebracht. Er ließ Clooney einen großen Spielraum für Kreativität und offenbar verstanden sich die beiden sehr gut, was die Umsetzung dieser tragischen Komödie betrifft. Der Film entstand nach dem Debut-Roman "About Schmidt – Sideways" von Kaui Hart Hemmings und der der Regisseur sagte in einem Interview, dass er begeistert war von den starken Kontrasten des Buches, der sehr emotionalen Geschichte an einem exotischen Schauplatz. Zu Beginn des Films lässt Payne seinen Hauptdarsteller folgendes sagen: "Meine Freunde auf dem Festland glauben, nur weil ich auf Hawaii wohne, würde ich im Paradies leben. Quasi Dauerurlaub. Wir schlürfen hier alle nur Mai Thais, wackeln mit den Hüften und gehen surfen. Spinnen die? Unser Krebs ist genauso tödlich, wie der überall auf der Welt auch, unsere Eheprobleme machen genauso traurig…"

Am Schluss, nachdem die Asche der Ehefrau und Mutter mit einer Seebestattung im Meer verstreut wurde, Vater und Töchter ihre Blumenkränze mit der Asche davon schwimmen haben lassen, stellt sich so etwas wie Normalität bei ihnen ein. Die kleine Tochter kuschelt auf der Couch mit einer Decke vor dem Fernseher. Der Vater bringt ihr Eiscreme in einer Schale und nimmt sich ein Stück von der Decke, während er auch fernsieht und sein eigenes Eis isst. Etwas später und ebenso zögerlich kommt die große Tochter, setzt sich neben ihren Vater. Der wiederum zieht die Decke noch ein bisschen herüber, damit sie auch das große Kind wärmt. Dann reicht er ihr wortlos seine Eiscreme. Im Bild sind seine Füße, die auf dem Tisch liegen und sie schauen in die Kamera, als stünde dort ein Fernseher. Das Ende vom Lied: Matt King, der Vater ist in der Familie angekommen und hat Verantwortung übernommen.  Damit endet der Film – im Vordergrund die Füße von Clooney auf dem Tisch.

Den Mädchen, hier Shailene Woodley als das aufmüpfige Teenie, Amara Miller, die die 10-jährige Tochter spielt gebührt großes Lob und erwähnenswert Beau Bridges in einer Nebenrolle als geldgieriger Cousin, den nur interssiert, wann endlich wieder Land verkauft wird. Insgesamt ein klassisches Hollywoodrührstück, das ohne allzu großes Budget ausgekommen ist. Bereits mit zwei Globes ausgezeichnet und mit fünf Oscar-Nominierungen ausgestattet. Sehenswert, überaus sehenswert.

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