Sprachlos sind wir, ob der Ausnahme, die das Nobelpreiskomitee mit dieser Wahl machte, die in den bisherigen Wissenschaften fast gänzlich Amerikaner im Namen Nobels ausgezeichnet hatte. Ein wenig tragisch für den amerikanischen Schriftsteller, dem seit langem dieser Weltpreis von den Fachleuten zugesprochen wurde: Philip Roth. Aber noch ein Amerikaner war nicht drinnen und man räsoniert über Europa und denkt sich, wäre sein Großvater nicht aus Polen, Jiddisch sprechend, in die USA eingewandert, dann”¦Aber diese Gedankenspielereien sollen ja nur darauf verweisen, daß wir im Osten schon immer ein gewaltiges literarisches Potential hatten, das Herta Müller glücklich in Berlin leben kann, wobei ihre Bücher erst im Rowohlt Verlag erschienen und ihr Verleger seit 2003, Michael Krüger, dem wir damit auch gratulieren, ihr eine sichere Heimat bot.
Und ehe wir auf die Preisträgerin, die seit 1995 auch Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ist, zurückkommen, doch noch ein Wort zum Hanser Verlag. Man könnte fast glauben, daß dieser – einer der vierzig großen Verlage der Republik und ein literarisch besonders arrivierter, eine geheime Beziehung zum Komitee habe, denn allein in diesem Jahrtausend ist das schon der dritte bei Hanser verlegte Nobelpreisträger: Im letzten Jahr als Außenseiter der Franzose J.-M.G. Le Clézio und 2006 der Türke und Weltschriftsteller Orhan Pamuk. Aber schon im 20. Jahrhundert waren es allein seit 1960 neben dem Deutsch schreibenden Elias Canetti, Saint John Perse, Ivo Andric, Yasunari Kawabata, Eugenio Montale, Issac B. Singer, Czelaw Milosz, Joseph Brodsky, Derek Walcott und Seamus Heaney. Der Nobelpreis ist im übrigen der höchstdotierte Literaturpreis der Welt und beträgt derzeit zehn Millionen Kronen, das sind 1,09 Millionen Euro.
Herta Müller ist soeben mit ihrem neuesten Roman, „Atemschaukel“ auch eine der sechs Finalisten zum Deutschen Buchpreis, der am Montag, 12. Oktober im Frankfurter Römer verliehen wird. Ihr Buch ist eine Hommage an den verstorbenen Dichter Oskar Pastior. Wir schrieben über ihre Lesung: „Zwei Jahre habe sie sich mit Oskar Pastior getroffen, wie sie Rumäniendeutscher und außer Landes gegangen, also in eines der beiden damaligen Länder der Muttersprache, erläutert dann Herta Müller sehr sachlich und souverän ihr literarisches Projekt, Pastior habe von Rumänien und vom Arbeitslager erzählt, sie mitgeschrieben. Ja, das wäre ein anderes Buch geworden, wäre Pastior nicht so plötzlich gestorben. Zuvor war sie mit Pastior in der Ukraine gewesen, wo sich das Arbeitslager befand und wo auch ihre eigene Mutter interniert war, die erst später nach Rumänien zurückkam. In der Kindheit wurde in der Familie der Müllers nicht darüber gesprochen, öffentlich schon gar nicht. Anrührend begründet Herta Müller das Nichterzählen auch mit der Mentalität ihrer bäuerlichen Familie: „Bauern sprechen nicht über sich.“
Die Moderatorin fragt nach, ob die noch lebende Mutter heute darüber spreche. Sie verweigere sich nicht, wie auch nicht die übrige Dorfgemeinschaft, aber sie sind das Sprechen nicht gewöhnt, wiederholt die Gefragte. Oskar Pastior hat im Alter das Bedürfnis verspürt, darüber zu reden. Als Pastior kurz vor der Verleihung des Büchnerpreises starb, glaubte Herta Müller, daß damit auch das Buch gestorben sei. Er war ihr bei allen Worten und Bildern gegenwärtig, weshalb sie nicht weiterarbeiten konnte. Aber mit Abstand und dem Wissen, wie wichtig ihm das gewesen wäre, fing sie an, den Roman zu schreiben und solange sie schrieb, blieb er ihr lebendig, obwohl er ja tot war. Ab irgendwann hat sich das Buch von alleine geschrieben, wenn auch im Ton Pastiors.“ Wir hatten dann noch räsoniert, daß dieses Buch als Roman einen anderen Charakter habe als gewöhnlich und deshalb nicht so für den Deutschen Buchpreis geeignet sei und forderten am 28. September wörtlich: „Herta Müller hat ein Buch geschrieben, das einen Spezialpreis verdient“. Daß dem das Nobelpreiskomitee so unmittelbar nachkommt, das macht uns ein weiteres Mal sprachlos.
Ihre Werke
– "Niederungen" (1984), Erzählungen
– "Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt" (1986), Erzählungen
– "Barfüßiger Februar" (1987), Erzählungen
– "Reisende auf einem Bein" (1989), Prosa
– "Der Teufel sitzt im Spiegel" (1991), Essays
– "Der Fuchs war damals schon der Jäger" (1992), Roman
– "Herztier" (1994), Roman
– "Hunger und Seide" (1995), Essays
– "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" (1997), Roman
– "Der Fremde Blick oder das Leben ist ein Furz in der Laterne" (1999), Essays
– "Im Haarknoten wohnt eine Dame" (2000), Collagen
– "Der König verneigt sich und tötet" (2003), Essays
– "Die blassen Herren mit den Mokkatassen" (2005), Text-Bild-Collagen
– "Atemschaukel" (2009), Roman