Niemand wird überfordert, denn was Joachim Meyerhoff mit angenehmer Stimme anschaulich vorträgt, ist übersichtlich strukturiert, gut verständlich und befriedigt das Bedürfnis nach entspannendem Amüsement. Alles ist nett wie in den sog. heiteren Romanen, die bis in die 1960er Jahre Konjunktur hatten.
Schauplatz ist das gehobene Bildungsbürgertum, die Schutz- und Trutzburg Familie, in der auch schreckliche Todesfälle weich aufgefangen werden.
Von diesem sicheren Hort aus lässt es sich auch angenehm in die Ferne schweifen, z.B. ins mit Kolonistenblick betrachtete groteske America, und dort sogar bis in die Todeszellen einer Haftanstalt, wo es so schön gruselig ist wie in der Geisterbahn.
Auch das heimische Umfeld bietet Exotisches, wie die psychiatrische Klinik, die von Joachim Meyerhoffs Vater geleitet wurde.
Verrückte können sehr komisch sein. Diese, derzeit unter politischer Korrektheit vergrabene, Erkenntnis wird von Meyerhoff mit naivem Frohsinn wieder zu Tage gefördert.
Joachim Meyerhoff versteht es, alles, was er tatsächlich erlebt hat oder gern erlebt hätte, in hübsche Anekdoten zu verpacken. Manchmal blickt er von seinen Manuskriptseiten auf und fügt, anscheinend ganz spontan, etwas hinzu, das er dringend noch sagen muss. Immer wieder hält er beim Lesen inne und bringt Rührung oder Belustigung über seine Erinnerungen zum Ausdruck oder staunende Bewunderung angesichts seiner eigenen erzählerischen Gestaltungskraft.
Im dritten Teil seines Solo-Abends, wenn Meyerhoff von den musikalischen Vorlieben seiner Großeltern berichtet, legt er eine zerkratzte Schallplatte auf. „Solveigs Lied“ ist zu hören, zuerst von der Platte, dann live aus dem Zuschauerraum, wo eine junge Sopranistin ruhig auf ihrem Platz sitzt und Griegs Lied mit wunderschöner Stimme a capella singt.
Der Zuschauerraum bleibt dunkel, nicht nur während des Vortrags, sondern auch danach, beim Applaus für die Sängerin. Nicht sie, sondern Meyerhoff stellt sich dann ins Scheinwerferlicht, verbeugt sich und vereinnamt den Beifall für seinen glänzenden Regieeinfall.
Zum Schlussapplaus bittet Meyerhoff die Sängerin dann höflich auf die Bühne. Der Name der Sängerin steht jedoch nicht im Programm.
Nach dem musikalischen Einsprengsel muss Meyerhoff weiter über seine Großmutter lesen. Da ist sehr viel von Verehrung für die große Schauspielerin und beeindruckende Persönlichkeit die Rede, und die belustigenden Beschreibungen der Auswirkungen ihres Alkoholkonsums und ihrer Altersgebrechen sind überhaupt nicht böse oder respektlos gemeint. Mit dieser Figur geschieht nur, was allen anderen in Meyerhoffs Text abgehandelten Personen und Ereignissen ebenfalls geschieht: Meyerhoff erzählt sie zu Tode. Am Ende bleibt nur Joachim Meyerhoff.
Am Schluss des Abends zeigt Meyerhoff einen kurzen Ausschnitt aus dem einzigen Film, in dem er mitgewirkt hat, gemeinsam mit seiner Großmutter
Zu sehen ist ein junger Mann, der ausdruckslos und ungelenk neben der großartigen Schauspielerin Inge Birkmann herumsteht.
Joachim Meyerhoff spricht ausschließlich von seiner Großmutter. Den Namen Inge Birkmann erwähnt er nicht. Wozu auch? Meyerhoff genügt doch – oder?
„Alle Toten fliegen hoch“ von und mit Joachim Meyerhoff, eine Produktion des Burgtheaters, Wien, war am 13., 15. und 17. Mai im Rahmen des Theatertreffens 09 im Maxim Gorki Theater Berlin zu sehen.