“Pink Palace” heißt das alte Haus, in welches “Coraline” und ihre Eltern gezogen sind, aber rosarot geht es darin nicht zu. Coralines Eltern wollen vor dem Computerbildschirm nicht gestört werden. Im Matsch spielen darf Coraline nicht, bunte Kleider aussuchen auch nicht und auf Entdeckungstour gehen schon gar nicht. Wenn überhaupt gibt es ekliges Mikrowellenessen und die Nachbarn sind merkwürdig. Was meinen die alten Miss Spink und Miss Forcible damit, Coraline schwebe in Gefahr? Der kauzige Herr Bobo überbringt “Coraline” eine Warnung seiner angeblich sprechenden Zirkusmäuse. Irgendwie hat es mit der kleinen Tür zu tun, die Coraline entdeckt hat. Dahinter liegt ein Haus wie ihr Haus, aber es ist mehr: ein zu Hause. Mit einer anderen Mutter, die lecker kocht und Spiele spielt, einem freundlichen Vater, besseren Spielsachen und Ratten, die unheimliche Reime singen. Alle haben Knöpfe statt Augen. Will sie bleiben, muss auch Coraline sich Knöpfe annähen lassen. Und die andere Mutter will Coraline als Kind “für immer und ewig”.
Coraline ging allein ”¦
Während Neil Gaimans Comics für ihre Innovation und Versponnenheit bekannt sind, knüpft er in “Coraline” an klassische Motive aus der Kinderliteratur an. Magische Spiegel, eine verzauberte Schneekugel und sprechende Tiere. Die archetypischen Motive mindern die Spannung jedoch, statt sie zu erhöhen. Zu oft lässt sich die Handlung vorausahnen. Gleichzeitig steigert die Vertrautheit der Symbole die Interpretationsfähigkeit der Leser. Comiczeichner P. Craig Russel knüpft an Gaimans Übernahme des populären Literaturguts an. Geflügelte Hunde verfolgen Coraline wie die geflügelten Affen der bösen Hexe des Westens Dorothy im “Zauberer von Oz” und ein geflügeltes Geisterkind, ein früheres Opfer der anderen Mutter, erinnert an Peter Pans Fee Tinkerbell. Anders als Lewis Carrol und Frank L. Baum tendiert Gaimans “Coraline” zu einer kindlichen Gruselgeschichte. Die gespenstischen Untertöne manifestieren sich besonders wirksam in den Versen in “Coraline”. Mit ihnen überschreitet Gaiman die Grenze hin zur psychologischen Ebene in “Coraline“.
“Oh – my twitchy witchy girl
I think You are so nice
I give You bowles of porridge
And I give You bowles of ice
Cream
I give You lots of kisses
And I give You lots of hugs
But I never give You Sandwiches with bugs
In”
(Coraline)
„Oh – mein sich windendes Mädchen, ich denke du bist so hübsch”¦ Ich gebe dir viele Küsse, ich gebe dir viele Umarmungen, aber ich gebe dir niemals Sandwiches mit Käfern“. Es ist einer der Kinderreime, die unter der scherzhaften Oberfläche unheimlich klingen. Woher die Kinderreime kommen, weiß man nie so genau. Wer sollte einem Käfer geben und wovor windet man sich? Die durch die Verse erweckte Atmosphäre vermag Russel nicht in ausdrucksstarke Bilder zu bannen.
“Böse, böse, keiner will sie
Kam der Koch
Wollt sie doch
Kam sie in den Suppentopf.”
Nein, Gaiman schreibt das nicht, aber es passt zu “Coraline“. „Keiner will einen“ zur Strafe für undefiniertes Schlechtsein. Als wäre das nicht schlimm genug, wird man in Suppe gekocht, vielleicht mit Käfern drin. Niemand will Coraline. Ständig tadeln ihre Eltern sie, woraus viele Kinder schlussfolgern, sie seien schlecht. Die andere Mutter will Coraline, sogar “für immer und ewig”, aber –
Durch zwei Sätze verraten sich die anderen Eltern als unbrauchbare Alternative zu Coralines wahren Eltern: “Es wird gar nicht weh tun.” und “Wir wollen nur dein Bestes.” Coraline erkennt die Lügenfloskeln, die alle Eltern irgendwann äußern. Früher war alles besser. Wir hatten es viel schwerer. (Wie kann man es viel schwerer gehabt haben, wenn alles besser war?) Das wird dir noch Leid tun. Den letzten Satz verwendet Coraline vor ihrem finalen Kampf mit der anderen Mutter und entsprechend der Moral des Kinderbuches bewahrheitet er sich. “Coraline” ist eine Geschichte über das Erwachsenwerden. Coraline mag bunte Kleidung, Entdeckungsausflüge und im Matsch spielen. Ihre Eltern empfinden dass als kindisch. Dabei ist es kindlich. P. Craig Russel übernimmt in seinem Comic die Perspektive der Eltern und zeichnet Coraline als Jugendliche statt als kleines Mädchen, wie Coraline es in Gaimans Roman ist. Diese normale Kindlichkeit manifestiert sich in der “anderen” Fantasiewelt. “Jedes Kind hat die.”, sagt Coralines andere Mutter. Coraline muss sich gegen ihre “kindische” Fantasiewelt entscheiden, um erwachsen zu werden, anstatt “für immer und ewig” ein Kind zu bleiben. Um die andere Mutter endgültig zu besiegen, tut Coraline etwas sehr Unheimliches. Sie spielt Kind. Indem sie so tut, als würde sie spielen, lockt sie das “Andere” in eine Falle. Auf den Grund eines bodenlosen Brunnens, tief in ihrem Unterbewusstsein vergräbt sie ihre Kinderfantasien, in der Hoffnung, sie werden nie daraus hervorkriechen.
“We are small but we are many
We are many we are small
We were here before You rose
We will be here when You fall”
(die Ratten in “Coraline”)
“Ihr habt Namen, weil ihr nicht wisst, wer ihr seid.”, erklärt eine sprechende Katze Coraline. “Wir Katzen haben keine Namen.” Das Namensmotiv in “Coraline” beruht auf der Interpretation des Eigennamens als Versinnbildlichung des Egos. In Märchen vergessen die Charaktere mit dem Namen die Identität, sei es die eigenen oder eines geliebten Menschen. Der Name definiert eine Leerstelle. Existiert diese Leerstelle nicht, sind Namen überflüssig. Gaiman spinnt dieses Motive weiter: Coraline hat einen außergewöhnlichen Namen, den nur ihre Eltern richtig aussprechen. Im Falschaussprechen verraten Coralines Mitmenschen ihr mangelndes Verständnis Coralines. Sie sprechen zu ihr, aber nicht mit ihr. Miss Spink und Miss Forcible schüren mit ihrer Warnung vor Gefahr Coralines Neugier. Die Warnung des Nachbarn, nicht durch die Tür zu gehen, scheint Coraline erst auf diese Idee zu bringen. Ausschlaggebend für Coralines “Erforschen” ist die von Gaiman und Russel kritiklos geschilderte elterliche Vernachlässigung. Ob ihre Tochter gesund oder überhaupt etwas isst, wo sie sich aufhält und wie es ihr geht, interessiert die Eltern nicht. Wiederholt fordern sie Coraline auf zu gehen. Das tut sie schließlich.
Coralines Heim-Suchung
“Nebel” schreibt “Coraline”, als sie ein Bild malen soll. Im dichter werdenden Nebel um das Haus riecht Coraline das “sehr Alte, Langsame” hinter der Tür: das Unterbewusstsein. In P. Craig Russels Comic und in Henry Selicks Puppentrickfilm führt die Tür Coraline durch einen nebeligen Tunnel. In Gaimans Kinderbuch genügt ein Schritt. Das Übergleiten in die andere Welt verläuft abrupt, mit einem Wirbelsturm oder dem Sturz ins Bodenlose. Kein Nachdenken, kein Umkehren.
Im “Zauberer von Oz” heißt es nicht “Zu Hause ist es am Schönsten.”, sondern “Es gibt keinen Ort wie zu Hause.” Aber andere, bessere: Oz, Nimmerland, Wunderland und irgendwie auch Coralines anderes Heim. Weder Neil Gaiman noch P. Craig Russel wollen das betonen, aber man fühlt es dennoch.
In einer Episode einer alten Mysterien-Fernsehserie tauchen zwei von ihren streitenden Eltern abgelehnte Geschwister durch ihren Swimmingpool in ein Zauberland. Dort kümmert sich eine liebevolle alte Dame um sie und andere Kinder. Auf Rufen der verängstigten Eltern kehren die Kinder zurück. Als die Kinder das dritte Mal vor den immer weiter schimpfenden Eltern in das Zauberland flüchten, ignorieren sie deren Rufe. Ende. “Alice im Wunderland”, “Peter Pan” und “Der Zauberer von Oz” sind Kindergruselmärchen. Sie versichern, dass die Herzkönigin besiegt werden kann, Captain Hook ans Krokodil verfüttert und das Kind immer Heim kommen kann, egal, wo es ist. Kinder beruhigt das. Doch Eltern wissen, dass es nicht wahr ist. “Coraline” ist ein Erwachsenengruselmärchen. Es verspricht, dass es für Kinder kein besseres Heim geben kann, die Eltern unersetzbar sind und das Kind immer reumütig zu ihnen zurückkehren wird, egal wo es war. Die Eltern beruhigt das. Doch Kinder wissen, dass es nicht wahr ist.
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Titel: Coraline, Autor: Neil Gaiman, Jahr: 2003, Verlag: Arena
Comic: Coraline, Autor und Zeichner: P. Craig Russel, Jahr: 2009, Verlag: Carlsen