„Zieh die Birne ein, zieh die Rübe ein, Du Neckermann!“ – Serie: Kunstmuseum Wolfsburg feierte den 15. Geburtstag mit der Sammlungsausstellung „Gegen den Strich“ (Teil 2/2)

Gegen den Strich, wie man so sagt.

Ausnahmen die „Ex-DDR-Maler“, also die aus dem Osten stammenden Neo Rauch als bekanntester mit großen Gemälden um 2000, Eberhard Havekost, der mit ganz anderer Technik erst fotografiert und die Fotos dann abmalt, hier auch seine kleine Tochter, und aus England Elizabeth Peyton mit ’Historienmalerei` der neuen Art, nämlich dem Bildnis „Prince Harry in Westminster Abbey“ von 1998. Das ist insgesamt sehr wenig, denn die menschliche Figur ist längst wieder Zentrum der Malerei geworden. Deshalb freuen wir uns, wenn wir lesen, daß ab 11. November „Ich, zweifellos. Porträts aus der Sammlung des Kunstmuseums Wolfsburg“ gezeigt werden, da dies rückverweist, daß die hier gezeigte ’15 Jahre Ausstellung` einen Schwerpunkt setzt, aber nicht repräsentativ für die Sammlung stehen soll. Wonach aber die Künstler und ihre Werke für diese Repräsentation ausgewählt worden sind, wird nicht klar, abgesehen davon, daß es sich um berühmte Künstlernamen handelt und das Grundprinzip ist, daß Minimal Art, Conceptual Art und Arte Povera die Positionen der Sechziger markieren sollen, denen jüngere Künstler gegenübergestellt werden. Aber die Gesamtidee? Gegen den Strich, kann es nicht sein. Womit wir dagegen völlig einverstanden sind und dies für ein richtig gutes Ausstellungskonzept halten, sind die Schwerpunktbildungen von größeren Werkkomplexen der ausgesuchten Künstler.

Hier hängt also nicht aus jedem Dorf ein Hund, sondern die rund 119 Werke von insgesamt 65 Künstlern sind sogar so zu verstehen, daß von einigen deren Werkgruppen aus den verschiedenen Phasen so umfangreich ausgestellt sind, daß man kleine Retrospektiven sieht. Aber gleich finden wir wieder, daß Frauen unterrepräsentiert sind, denn nur fünf von den 65 sind weiblich, was mit gut 7 Prozent nicht repräsentativ ist und uns fragen läßt, gibt es in der Sammlung nichts von Louise Bourgeoise, nichts von Sophie Calle, nichts von Rebecca Horn, nichts von Hanne Darboven, Isa Genzken, Rosemarie Trockel, nichts von Katharina Fritsch oder Agnes Martin, gar Tracey Emin und auch nichts von den Bechers? Aber, das werden wir noch herausfinden und schauen uns erst einmal die ausgestellten, äußerst erhellenden Videos von Christian Jankowski an, bei denen wir nur mit dem englischen Titel ’Kreative Problems’ nichts anfangen können, sprechen doch die Personen in den Filmen Deutsch. Die Arbeit von 1999 und 36 Minuten Länge bringt Paare ins Bild, die heute getrennt sind, die aber noch mal ihren Liebesbeginn durch Liebeszenen simulieren und dann in Diskussionen geraten, in denen mindestens ein Ankläger vorhanden ist, der auch noch die Rolle des Richters übernimmt und jedes verteidigende Wort des anderen dessen Schuld vergrößert”¦ja, das sind sie, die Szenen einer Ehe, die wir alle von uns und/oder anderen kennen: „Ich habe das Recht, so lange zu schlafen, wie ich möchte.“ Ach ja, es ist eine alte Erkenntnis, die so schwer zu befolgen ist: Man kann andere Menschen nicht ändern, nur sich selbst.

Sehr aufklärend die Worte des Museumswärters, der uns zum Video erzählt, daß, als VW die Schicht auf 4 Tage verkürzte, die Scheidungsrate in und um Wolfsburg nach oben schnellte, so als ob der zusätzliche Tag des Beisammenseins den Ehen den Rest gab. Überhaupt das Personal im Wolfsburger Kunstmuseum, das ist der positiven Erwähnung wert. Man hat den Eindruck, daß ein jeder dem Besucher auch inhaltlich die Werke nahe bringen will und sich einerseits außerordentlich mit dem Museum identifiziert, andererseits echtes Interesse an Kunst hat und die für viele Museumswächter langweilige Tätigkeit sich dadurch selbst spannend hält. Tatsächlich schauen sich hier die Kunstbewacher die Kunstwerke detailliert an und haben zu ihnen eine eigene Meinung gebildet. Da kommt man ins Staunen.

Daß Cindy Sherman schon so lange ihre Selbstporträts, oder doch besser Stilisierungen anderer Personen mittels des eigenen Körpers, fotografiert, kann man hier feststellen und auch, daß Gilbert&George einfach zu viele Männer abbilden. Der Koreanerin In Sook Kims „Saturday Night“ ist ein starkes Stück bearbeitete Fotografie, denn hinter den Fenstern ihrer groß dimensionierten Hotelfront kann man die Szenen im Zimmer erkennen, die so geartet sind, daß man erst einmal glaubt, in ein Bordell zu schauen, aber nach und nach auch anderes wahrnimmt und nun eigentlich für den Rest des Tages dort stehen bleiben und die Geschichten zu den Szenen erzählen könnte, denn das hat etwas ungeheuer Anregendes, so mitten ins Leben von so vielen anderen Personen zu treten. Eine Geschichtenmotivierung wie „Menschen im Hotel“ von Vicky Baum, die heutzutage kaum einer mehr kennt, hier aber erzielt durch Bilder oder auch: Resultat einer lebhaften Phantasie.

Zu Tobias Rehbergers niedriggehängter „Decke, Büroraum 1. Stock“ von 1998 fällt uns auch eine Geschichte aus Nepal ein, wo in einem der Tempel ein kleiner Nepalese zu den Besuchern sagte: „Zieh die Birne ein, zieh die Rübe ein, Du Neckermann!“ Hier wird’s Ereignis. Mit den gefesselten Frauen von Araki Nobuyoshis Bilderwandfotografien wollen wir nichts zu tun haben. Das hat schon im KMK Jean-Christophe Ammann missionarisch zur Kunst erklären wollen, was uns auf schön und glatt getrimmte Auswüchse männlicher Allmachtsphantasien sind. Pornographie eben, aber die ist „in“ in der Kunstlandschaft, was die Pornoausstellung in der Kunsthalle Wien im Sommer des Jahres zum Thema hatte. Die Riesenleinwand von Thomas Demand, „Grotte“ 2006 dagegen fasziniert uns und dies auch deshalb, weil sie eine weitere Szene in Lars von Triers neuem Film „Antichrist“ hätte sein können. Wo dort die Natur ausufert, sind es hier die wie im organischen Bauen von Gaudí­ favorisierten Naturformen die weiterwachsen und weiterwuchern, ein umschließendes Ersticken produzierend, ohne direkt böse zu sein, ein getarntes Böses, Natur eben. Eindrucksvoll.

Da kommt noch viel Interessantes, Christian Boltanski mit einer hübschen, an Scherenschnitt erinnernder Arbeit, witzig die Eisenbahn von Jannis Kounellis aus dem Jahr 1977, die um einen Pfeiler auf metallener Bahn auf der Spirale nach oben fährt, Thomas Schütte mit ganz unterschiedlichen Arbeiten, oben im ersten Stock dann die aufwendigen Räume von Anselm Kiefer und Gerhard Merz und noch so viel, was Sie sich alleine anschauen müssen. Und wenn die Zeit nicht reicht, kann man die meisten Werke im Werkverzeichnis nachlesen und auf eine weitere Ausstellung der eigenen Sammlung bauen.

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Vorgezogenes Ende der Ausstellung am 6.9.2009

Katalog liegt keiner vor, dafür aber: Kunstmuseum Wolfsburg, Gesammelte Werke 1. Zeitgenössische Kunst seit 1968, Wolfsburg 1999

Nächste Ausstellungen: James Turrell. A Project for Kunstmuseum Wolfsburg, ab 24.Oktober 2009 und

„Ich, zweifellos. Portraits aus der Sammlung des Kunstmuseums Wolfsburg, ab 21. November 2009

Internet: www.kunstmuseum-wolfsburg.de

Mit freundlicher Unterstützung des The Ritz Carlton in Wolfsburg, Autostadt. Unterwegs zwischen den kulturellen Superausstellungen in Magdeburg „Aufbruch in die Gotik“ und Braunschweig „Otto IV.“ bietet sich der günstig in Bahnhofsnähe gelegene rundgebogene Hotelkomplex zum Übernachten an. Zudem erleben Sie dort eine so außerordentliche Stille, die einen wunder- und erholsamen Kontrast zu den zu Recht überlaufenen Ausstellungen in Magdeburg und Braunschweig bildet. Und sind Sie schon dort, dann liegt das Kunstmuseum immer geradeaus am anderen Ende der Porschestraße. Aber vorher sollten Sie dann noch die Aussicht und die Annehmlichkeiten des Hotels genießen – und wenn möglich die Autostadt.

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