Zeitgenossenschaft und szenisches Schreiben – Fünf Stücke und zwei Außerirdische beim Theatertreffen Stückemarkt 2012

Erstmals in der 34-jährigen Geschichte des Theatertreffen Stückemarkts hatte die Jury in diesem Jahr nicht nur fünf AutorInnen, sondern auch ein Theaterkollektiv ausgewählt und sich damit den Zeichen der Zeit angepasst: Unter den 325 Einsendungen gab es 39 Projektkonzepte von Theaterkollektiven.

Kennzeichnend für den Stückemarkt ist auch seine Internationalität: Eingesandt wurden 175 Theatertexte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz und 111 aus 28 nicht deutschsprachigen, europäischen Ländern, wobei Großbritannien und Polen am stärksten vertreten waren

Die neue Stückemarkt-Leiterin ist Christina Zintl, Nachfolgerin von Yvonne Büdenhölzer, die als Nachfolgerin von Iris Laufenberg das Theatertreffen leitet. Die Stückemarkt-Jury 2012 besteht aus: Stefan Bachmann, Yvonne Büdenhölzer, Mieke Matzke, Ewald Palmetshofer und Dries Verhoeven.

Von den eingesandten Stücken sind 155 von Autoren und 131 von Autorinnen geschrieben worden. In die engere Auswahl kamen 18 Stücke, die von neun Autorinnen, neun Autoren, neun internationalen und neun deutschsprachigen AutorInnen eingereicht wurden.

In szenischen Lesungen wurden die fünf ausgewählten Stücke präsentiert, und zum Abschluss boten die Performer  Markus&Markus eine Arbeitsprobe aus ihrem Stück „Polis300: respondemus“, die sie im neu eingerichteten Projektlabor des Stückemarkts zusammen mit ihrem Wunsch-Tutor René Pollesch entwickelt hatten.

Eröffnet wurde der Stückemarkt 2012 durch den britischen Dramatiker Dennis Kelly, der per Skype-Zuschaltung zu erleben war. „Warum politisches Theater eine idiotische Zeitverschwendung ist“ hatte Kelly sein Impulsreferat provozierend betitelt und war zu dem Ergebnis gekommen, dass politisches Theater sehr wohl entscheidend zur Gesellschaftsveränderung beiträgt.

Beim Theatertreffen 2010 war Dennis Kellys Stück „Liebe und Geld“, in einer Inszenierung von Stephan Kimmig am Thalia Theater Hamburg, zu sehen. In diesem Stück werden die Ereignisse rückwärts erzählt.

Der gleichen Methode hat sich die 1970 in Nordengland geborene Autorin, Regisseurin und Dramaturgin Pamela Carter bedient. In ihrem Stück „Skane“ werden zwei liberale Familien im heutigen Schweden durch eine Liebesaffäre zunächst zusammengeführt und dann wieder auseinandergebracht. Malin, verheiratet mit Kurt und Mutter des elfjährigen Olle und des  fünfzehnjährigen Per, hat einige Monate lang eine Beziehung mit Christian, verheiratet mit Siri und Vater der dreizehnjährigen Ingrid. Die Familien drohen auseinander zu brechen, die Betrogenen reagieren mit ohnmächtiger Wut und bitterem Zynismus. Schließlich kehren alle wieder in die gewohnten Bahnen zurück.

Die Kinder erweisen sich in diesem Stück als sehr viel scharfsichtiger und klüger als die Erwachsenen. Sie lassen an die außergewöhnlichen Kinder in den Romanen der britischen Schriftstellerin Ivy Compton-Burnett denken.

In der szenischen Lesung beim Stückemarkt, eingerichtet von Karin Neuhäuser, wurden die drei Kinder Wanda Fritzsche, Johannes Däscher und Lenz Lengers für ihre hervorragende Textinterpretation mit ganz besonderem Applaus vom Publikum bedacht.

Auf Yvonne Büdenhölzers Frage, weshalb sie Kindern in ihrem Stück so große Rollen geschrieben habe, antwortete Pamela Carter beim Autorengespräch, dass Theater ein Spiegel der Welt sein solle und dass Kinder ein wichtiger Bestandteil dieser Welt sind.

Für ihr Stück erhielt Pamela Carter den von der Bundeszentrale für politsche Bildung geförderten mit 7.000 Euro dotierten Werkauftrag des TT Stückemarkts, verbunden mit einer Uraufführung am Staatsschauspiel Dresden.

Der mit 5.000 Euro dotierte Förderpreis für neue Dramatik, gestiftet von der Heinz und Heide Dürr Stiftung, verbunden mit einer Uraufführung am Maxim Gorki Theater Berlin, ging an den 1987 in Augsburg geborenen Dramatiker Michel Decar für sein Stück „Jonas Jagow“.

Jonas Jagow, der Titelheld, rast durch Berlin mit der Absicht, die Stadt zu zerstören. In schnell wechselnden Szenen entwickelt sich das Bild einer chaotischen Stadt aus der Perspektive eines chaotischen, größenwahnsinnigen jungen Mannes. Die Texte scheinen völlig ungeordnet, sind aber effektvoll zusammenkomponiert, mit Zitaten durchsetzt, und kreisen um jugendliche Befindlichkeiten, Beziehungen wie auch um Gott und den Kapitalismus.

„Und dann“ von Wolfram Höll, nach der szenischen Lesung  bereits vom Publikum als eindrucksvoller Hörtext gehandelt, wurde für eine Hörspielproduktion bei Deutschlandradio Kultur ausgewählt und wird, noch vor seiner Ursendung im Rundfunk, beim nächsten Theatertreffen als Hörtheater präsentiert.

Der 1986 in Leipzig geborene Dramatiker und Regisseur Wolfram Höll hat mit „Und dann“ ein wundervoll poetisches Stück geschrieben, in dem sich ein Kind an das Leben mit Vater und Bruder in einem Plattenbau in Ostdeutschland erinnert.

Meine beiden Favoritinnen beim Stückemarkt waren die Arbeiten der polnischen Autorinnen Julia Holewinska und Magdalena Fertacz.

Die 1983 in Warschau geborene Dramatikerin, Essayistin und Dramaturgin Julia Holewinska bekam 2010 den Gdinger Dramatiker-Preis für ihr Stück „Fremde Körper“, das im Februar 2012 im Teatr Wybrzeze in Danzig uraufgeführt wurde und beim Stückemarkt in einer beeindruckenden szenischen Lesung, eingerichtet von Anna Bergmann, zu sehen war.

In ihrem Stück verbindet die Autorin politisches Geschehen mit einem privaten Schicksal: In den 80er Jahren, zu Zeiten der Solidarnosc-Bewegung, kämpft Adam, ein junger Familienvater, mit seinen Freunden für Meinungsfreiheit und gegen persönliche Unterdrückung. Später, im heutigen Polen, ist Adam zu Eva geworden, eine Frau ohne Freunde, die aufgrund ihrer Transsexualität von der Gesellschaft diskriminiert wird und die bei ihrem Sohn Ekel auslöst.

Die szenische Lesung im Haus der Berliner Festspiele hatte die Qualität einer Vorstellung, besonders berührend durch Jana Schulz als Adam, der nicht nur gegen das falsche System, sondern auch gegen seinen falschen Körper rebelliert und Matthias Bundschuh als traurige, vereinsamte Eva.

Weniger gelungen war die szenische Lesung von „Kalibans Tod“, eingerichtet von Dominic Friedel. Vor allem die, auch in der deutschen Übersetzung von Andreas Volk, beeindruckende poetische Sprache wurde hier nicht zum Klingen gebracht.

Magdalena Fertacz, 1975 in Warschau geborene Dramatikerin, Schriftstellerin und Innenarchitektin wurde für ihr Stück „Trash Story“ mit dem Gdinger Dramatikerpreis ausgezeichnet.

Mit „Kalibans Tod“ hat Magdalena Fertacs eine bitterböse Satire über den Umgang mit Immigranten geschrieben: Eine Hilfsorganisation veranstaltet einen Architektur-Wettbewerb unter Slum-Bewohnern, der zum Medienereignis wird. Der Gewinner darf einwandern und wird von einem Künstler in einer grausigen Performance als Kunstobjekt ausgeschlachtet.

Anders als für die, z.T. heftig umstrittenen, zehn bemerkenswertesten Inszenierungen des Theatertreffens gab es für die beim Stückemarkt vorgestellten Texte fast ausschließlich Anerkennung und Applaus vom Publikum. Die Stückemarkt Jury hat offensichtlich zufriedenstellende Arbeit geleistet.

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