.Entstanden ist das, wie so was entsteht – aus einer Idee. Der aus Düsseldorf zugewanderte Landschaftsarchitekt Horst Wagenfeld und seine Frau erkannten den Spannungsbogen von der klaren Struktur der klassizistischen, aber fast abbruchreifen Temnitzkirche zur unverbauten Natur des verwilderten Gutsparks. Der von der Kirche abfallende Hang und die anschließende ausgedehnte Wiese sind wie geschaffen für ein Amphitheater, für große Theatralik oder Massenszenen.
Wagenfeld holte die Regisseure Jürgen Heidenreich und Frank Matthus. Sie entwickelten – vor 15 Jahren schon – die Idee eines Theaterfestivals unter freiem Himmel. Zunächst wurden mit Fördermitteln Kirche und Park restauriert.
Seine Laienschauspieler suchte und fand und findet Matthus je nach Repertoire durch Ausschreibung in der Lokalpresse. Jahr für Jahr steht nach einem Casting unter jungen, begeisterten Leuten aus der Umgebung eine hochmotivierte Schauspieltruppe. Die Weite der Szenerie verlangt eine besondere Theaterästhetik. Das Problem: die Darsteller sind einfach nicht zu hören. Jürgen Heidenreich ließ 1996 in »Unter dem Milchwald« 53 überlebensgroße Figuren nach einem vorproduzierten Textband – ähnlich dem Playback im Film – in synchronisierter Szene agieren. Noch heute wird das Stück von Dylan Thomas in diesem expressionistischen Stil »aufgeführt«.
Frank Matthus erweiterte die Form zum Synchrontheater. Die Schauspieler tragen Masken und bewegen sich mit überhöhter Gestik zum Text, den Profis eingesprochen haben. Die Tontechnik garantiert, dass die 400 Zuschauer auf allen Plätzen sogar ein Flüstern hören. Die Kehrseite: die Darsteller sind ihrer Stimme »beraubt«. Technisch ist die Übertragung der Stimme lösbar, wie die Kammeroper Rheinsberg beweist. Es wäre eben keine Kunstsprache.
Es mag Widerspruch zum neuen deutschen Großmachtstreben gewesen sein oder nur das Nachdenken über die Interpretationen von Wagner, Barlach, Heiner Müller oder Moritz Rinke in den Nibelungen-Festspielen in Worms, der Frank Matthus (alias Antony Perrey) animierte, die Nibelungensage neu zu erzählen. Er verarbeitete sie zur Trilogie »Der Fluch des Ringes« (2008), »Siegfrieds Tod« (2009) und – schließlich in diesem Sommer – »Kriemhilds Rache«.
Matthus erzählt die Geschichte auf materialistische Weise – als Spiel ökonomischer und politischer Machtinteressen, im 2. Teil noch als Kritik an der Kirche und ihren Dogmen, aber im 3. Teil als Durchsetzung der Interessen der Supermacht – hier der Hunnen unter König Etzel – gegenüber den Burgundern und den germanischen Stämmen. Das ist sehr heutig: Versammlung der Völker, der Rat für Sicherheit erlässt seine Wohlverhaltensregeln, zum Beispiel die Unantastbarkeit der Grenzen. Die Supermacht »bekennt sich zu ihnen«, die Regierungen jedoch bringen nach der Proklamation der Regeln unverzüglich ihre Vorbehalte vor. Von den Regeln bleibt nichts als Schall und Rauch.
Die Supermacht »ordnet« die Konflikte durch Forderung nach Vasallentreue, durch den Überfall auf Konkurrenten und deren Liquidierung. Kritiker werden kaltgestellt durch ökonomische »Kompromisse«, bei denen sie der Supermacht Waren und know how liefern gegen Papiergeld, das nicht durch das Gold als Weltgeld gedeckt ist. Im Stück ist es der Schatz der Nibelungen, der verschwunden ist, auf den das Hunnenreich jedoch Anspruch erhebt und diesen Anspruch als Deckung für seine Scheinwährung postuliert. Etzel: »Es ist so viel, wie wir behaupten, dass es ist!« Wo das nicht genügt, werden die Konkurrenten einfach ermordet. Dazu fühlt Etzel sich verpflichtet »im Interesse des Friedens«. Verwoben ist das Machtspiel mit dem Schicksal der unglücklichen Kriemhild, deren Gatte Siegfried gemordet wurde, um sie als Gattin Etzels zur Geisel des Hunnenreiches zu machen. Sie rächt sich, indem sie Etzels Sohn tötet.
Die weiträumige Naturbühne erlaubt es, die großen Konflikte groß zu inszenieren. Ausgangslage, Positionswechsel, Widerstand und Repression werden in großen Gängen und Gesten demonstriert. Die Masken verleihen den Figuren symbolischen Wert: Verfremdung im besten Sinne. Die Schauspieler trachten nicht nach Identifikation, sondern zeigen die Motive und die Haltungen der agierenden Figuren. Das Spiel bleibt spannend bis zur letzten Minute, weil der Zuschauer stets aufs neue überrascht wird von der Ähnlichkeit ihm geläufiger politischer Prozesse. Die poetische, überhöhte Sprache zwingt zum Mitgefühl für die Tragik der Opfer und ermöglicht auch in der Verfremdung Identifikation. Dialektik als Erkenntnisquelle: der Zuschauer sieht klarer.
Ton und Licht sind perfekt geführt (Hermann Höcker, Marc Hermann und Ralf Hiller). Die Infrastruktur (Kasse, Einlaßdienst, Verpflegung) arbeitet ehrenamtlich. 25 junge Schauspieler erzeugen 85 Minuten lang Spannung und Konzentration. Vier sind Berufsschauspieler. Der Unterschied kaum zu erkennen. Hervorgehoben werden muß Ines Lammers. Als Kriemhild trägt sie zwei Masken. Ihre graziös-exakten Bewegungen verleihen der janusköpfigen Figur überzeugenden Ausdruck aus beiden Sichten. Aufbegehren, Schmerz, Leiden, Klage, Rache – große Kunst.
Der Stolz der Truppe sind die Sprecher, durchweg namhafte Mimen wie Tom Quaas (Etzel), Katharina Gebauer (Kriemhild), Cornelia Jahr (Cymen), Judith Steinhäuser (Fara), Frank Matthus (Hödur), Corinna Harfouch (Ute) und viele andere. Matthus hat jeden mit seinem Mikro besucht und die Stimmen selbst gemischt. Die Truppe ist glücklich, dass alle die Texte ohne Gage eingesprochen haben. Doch das ist das Schlimme. Die Kollegen tun das für Kollegen aus Freundschaft. Beifall. Aber hat ihre Arbeit nur Gebrauchswert und keinen Wert?
Die Netzebander sind keine Ausnahme. Wo nicht die Hochkultur und ihre Gönner und milliardenschweren Sponsoren herrschen, hält diese Gesellschaft Selbstausbeutung der Künstler für eine Tugend. Die machen ja etwas, was ihnen Spaß macht! Gewiss, und ohne die Hilfe der Sparkasse Ostprignitz-Ruppin wäre der Theatersommer gar nicht möglich, aber eben zu Dumpinglöhnen.
Vor einem Jahr schlug Siegfried Matthus (der Komponist) allen Ernstes vor, die Stars an den großen Häusern und an den großen Festspielen sollten doch ein Prozent ihrer Gage geben für die Ausbildung und Förderung junger Künstler. Kopfschütteln war die freundlichste Reaktion. Hier irrte der Meister. Wo den Reichen durch die Steuer»reformen« von Schröder und Merkel jährlich 60 Milliarden Euro geschenkt werden, ist genügend Geld vorhanden, um die Künstler menschenwürdig zu bezahlen. Vorausgesetzt, man lenkte das Geld nicht in die Rüstung oder in die Forschung der Konzerne oder in die Elbphilharmonie. Oh doch, in Netzeband spielt Politik auf und hinter der Bühne.
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Die drei Teile der »Nibelungen« sind zu sehen am Freitag, 20. August 20.30 Uhr (I), Samstag, 21. August 18.30 Uhr (II), 22.30 Uhr (III) desgleichen am 27. und 28. August. Anschließend Lange Nacht des Theaters. Zelte dürfen aufgebaut werden. Frühstück 4 Uhr, erster Zug nach Berlin 5.12 Uhr vom Hauptbahnhof Netzeband.
Theatersommer Netzeband 033924 – 79936, Fax 37
Erstveröffentlichung des Artikels in jungeWelt vom 20.8.2010