„Wir würden gerne einen Politikwechsel Europas sehen” – Interview mit Sari Bashi

Sari Bashi © Bashi

Die Vereinten Nationen haben 2012 den Bericht Gaza 2020 – kann man da leben? veröffentlicht. Wie war die Menschenrechtslage im Gaza-Streifen vor diesem vierten Gaza-Krieg?

Lassen Sie mich einige Sätze zur Beziehung zwischen Israel und Gaza sagen. Gaza ist Teil des historischen Palästina. Die Menschen dort haben enge Verbindungen mit Menschen in Israel und dem West-Jordanland. Von 1967 bis 1991 verfolgte Israel eine Politik der offenen Grenzen und wirtschaftlicher Integration. Menschen in Gaza wurde es erlaubt, ja, sie wurden sogar dazu ermuntert, in Israel zu arbeiten und israelische Produkte zu kaufen. Im Allgemeinen durften sich Menschen ziemlich frei zwischen Israel, dem West-Jordanland und Gaza bewegen. Ab 1991, vor dem Hintergrund der 1. Intifada und mit dem 1. Golfkrieg als Auslöser begann Israel, den Zugang nach und von Gaza einzuschränken. Diese Einschränkungen sind in den letzten Jahrzehnten verschärft worden. Unmittelbar vor den jetzigen Kämpfen war die Bewegungsfreiheit nach und von Gaza extrem eingeschränkt. Reisen ins West-Jordanland und nach Israel waren nur in Ausnahmefällen möglich: Verglichen mit der Zahl der Menschen, die im September 2000 noch durch den Übergang Erez nach Israel oder ins West-Jordanland reisen konnten, waren es weniger als ein Prozent vor Beginn des aktuellen Krieges.  

Gelten diese Einschränkungen auch für Export und Import?

Waren nach Israel oder ins West-Jordanland zu exportieren, wird seit 2007 blockiert. Israel schränkt außerdem die Einfuhr von Baumaterialien nach Gaza ein, während andere Güter größtenteils eingeführt werden dürfen. Diese und andere Einschränkungen verhindern Entwicklung im Gaza-Streifen.

Welche zum Beispiel?

Familien sind getrennt. Studenten können nicht ihre Universitäten erreichen, Arbeiter nicht die Arbeitsplätze. Geschäftsleute, die ihre Märkte außerhalb Gazas nicht beliefern können, mussten Personal entlassen oder Arbeitsstunden abbauen.

Wie schlägt sich das statistisch nieder?

Die Arbeitslosigkeit liegt bei 41 Prozent, die der jungen Menschen sogar bei 58 Prozent. 70 Prozent der Bevölkerung ist auf Lebensmittelspenden angewiesen. Die Wirtschaft liegt am Boden.

In einem früheren Interview sagten Sie einmal, dass Koriander und Zimt nicht in den Gaza-Streifen eingeführt werden durften. Ist das immer noch der Fall?

Zwischen 2007 und 2010 war das so, änderte sich jedoch 2010. Die meisten „zivilen Güter” außer Baumaterialien dürfen seitdem importiert werden. Auf Ihre Frage mit der Menschenrechtslage zurückkommend, erklären wir: Da Israel den Gaza-Streifen stark kontrolliert, vor allem die Bewegungsfreiheit, hat es gegenüber der Zivilbevölkerung Pflichten. Internationales Recht gibt Israel das Recht, im Namen der Sicherheit Einschränkungen aufzuerlegen, doch müssen diese für die fast zwei Millionen Gazaner angemessen sein. Viele der Einschränkungen basieren nicht auf Sicherheitsaspekten. Deshalb sind sie unrechtmäßig.

Welche zum Beispiel?

Bis 2007 deckten Hersteller aus Gaza etwa 20 Prozent des Eiscreme-Marktes im West-Jordanland ab. Seitdem verbietet Israel den Eis-Transport aus Gaza zu Geschäften im West-Jordanland. Israel hat die Authorität, Lastwagen mit Eis aus Gaza zu inspizieren, um sicherzustellen, dass es wirklich Eis ist. Findet sich kein Sicherheitsproblem mit der Ladung, muss Israel den Transport erlauben. Das tut es jedoch seit 2007 nicht, obwohl es keine Sicherheitsbedenken gibt. Weiters verbietet es Israel seit dem Jahr 2000, Studenten aus Gaza im West-Jordanland zu studieren.

Die Friedensorganisation Gush Shalom sowie Ihre und andere Menschenrechtsorganisationen haben schon Mitte Juni, vor einer Kollektivstrafe des palästinensischen Volkes gewarnt? Ist dieser Krieg eine Kollektivstrafe?

Da müsste man sich bestimmte Aspekte genauer ansehen. Wir sind immer noch dabei herauszufinden, was da genau in Gaza passiert. Was ich aber sagen kann, ist: Viele der Maßnahmen, die zur aktuellen Eskalation beigetragen haben, werfen ernsthaft die Frage nach Kollektivstrafe auf, wie die Schließung der Übergänge, die Maßnahme, Baumaterialien nur eingeschränkt nach Gaza hereinzulassen oder die Unterbindung der wirtschaftlichen Entwicklung aufgrund des Exportverbot. Das hat direkte Auswirkungen auf das, was in Gaza derzeit geschieht. Wir machen uns Sorgen, dass wegen der Schäden infolge der Kämpfe die Strom- und Wasserversorgung zusammenbricht. Die Fähigkeit der Menschen, mit alldem klarzukommen, ist sehr begrenzt – wegen vieler Mängel und einer desolaten Infrastruktur. Das rührt von der Drosselung der Einfuhr an Baumaterial, Ersatzteilen oder Treibstoff her. Die Infrastruktur is in serious decline. Und nun treffen Bomben eine bereits kaputte Infrastruktur.

Was tut Ihre Organisation im Moment, ist es hauptsächlich die Verbreitung von Informationen?

Ja, das Informieren der Presse, von Regierungsstellen und ausländischen Organisationen ist ein Großteil unserer Arbeit. Wir sind auch damit beschäftigt, Menschen in Notfällen dabei zu helfen, durch den Übergang Erez nach Israel zu kommen. Was wir auch tun, ist Menschen daran zu erinneren, dass es einen Zusammenhang zwischen der Blockade des Gaza-Streifens und der wirtschaftlichen Lage vor diesem Krieg gibt. Israel – Gaza, das wurde so dargestellt: Periodische Gewaltausbrüche mit intensivem Beschuss und in den Zwischenzeiten Gewalt auf kleiner Flamme;  dazu kommt eine sehr restriktive Politik in punkto Bewegungsfreiheit nach und aus Gaza heraus. Die Blockadepolitik verschlimmert die Instabilität Gazas nur noch. Das liegt den aktuellen Kämpfen zugrunde. An das wollen wir erinnern: Wenn wir eine andere Beziehung zwischen Israel und Gaza möchten, müssen wir uns sehr genau diese Politik der Bewegungs(un-)freiheit ansehen, die Einschränkungen aufheben, damit normales Leben in Gaza möglich wird. Das wird zu einer besseren Stabilität beitragen.

Sie haben bereits beschrieben, wie dieser Krieg das Leben auf palästinensischer Seite beeinträchtigt. Wie sieht es in Israel aus?

Verglichen mit der letzten Eskalation im November 2012 erreicht die Gewalt nun viel mehr Gebiete Israels. Bis 2012 betraf Raketenbeschuss aus Gaza nur den Süden des Landes, der schwach besiedelt und wirtschaftlich arm ist. Nun fliegen die Raketen bis Tel Aviv, Haifa und Jerusalem. Das konkretisiert das Kämpfen für viel mehr Israelis. Es stiftet sehr viel Unruhe, vor allem bei Kindern. Es gibt, im Gegensatz zu Gaza Bunker und Schutzräume sowie ein Warnsystem. Das heißt: Mehrere Male am Tag rennt man zum nächsten Bunker oder legt sich flach auf den Boden – die Kinder unten, die Eltern darüber, um die Kinder vor den Raketenattacken zu schützen. Das ist sehr dramatisch für Kinder. In Gaza, wo es keine Bunker gibt, ist das was ganz anderes. Dort ist es sehr sehr schwierig.  

Etwa 700 palästinensische Tote, davon drei Viertel Zivilisten sowie 32 Opfer auf israelischer Seite: Was kann Deutschland, was die EU tun, um das Töten zu beenden?

Europa ist hier in der Region politisch und finanziell sehr engagiert. Ich sagte bereits, dass 70 Prozent der Bevölkerung des Gaza-Streifens auf Lebensmittelgaben angewiesen sind. Ein Großteil des Geldes dafür kommt von europäischen Regierungen. Diese Hilfe verhindert den Kollaps im Gaza-Streifen. Die Wirtschaft liegt ja angeschlagen danieder. Wenn Europa einen grundlegenden Wechsel in der Beziehung Israels zu den Palästinensischen Gebieten sehen möchte, muss es Verantwortung für seine wirtschaftliche Hilfe übernehmen. Europa muss von Israel verlangen, dass es nicht nur humanitär helfen darf, sondern auch in punkto Entwicklung.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Die niederländische Regierung spendete kürzlich einen Scanner, der Millionen von Dollar gekostet hat, für den Güterübergang Kerem Shalom zwischen Gaza und Israel. Doch die israelische Regierung erlaubt die Inbetriebnahme des Scanners nicht, der Produkte für den Markt im West-Jordanland oder in Israel durchleuchten soll. Da würden wir gerne einen Politikwechsel Europas sehen. Europäische Regierungen sollten da verantwortungsvoller sein, das wäre hilfreich.

Heißt das: mehr europäischer Druck auf die israelische Regierung?

Ja, schon. Die Europäer geben großzügig Geld. Aber dieses Engagement hält die derzeitige Lage auch aufrecht. Eine positive Weise, dies zu ändern, wäre, darauf zu bestehen, dass das Geld nicht nur für humanitäre Hilfe verwendet wird, sondern auch zur Entwicklung und zum Aufbau.

Anmerkung:

Johannes. Zang hat ein Buch über den Gaza-Streifen geschrieben: Gaza – ganz nah, ganz fern … (AphorismA, Berlin, 2013) – siehe www.aphorisma.de

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