„Wir können es uns leisten, ehrlich miteinander zu sein“ – Avi Primor im Gespräch mit Ulrike Holler über sein Buch „An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld“ aus dem Piper Verlag

Man durfte also gespannt sein, was diese beiden kritikfähigen und kritikaushaltenden Personen, er ein Israeli, sie eine Deutsche, auf der Bühne der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main sich zu sagen hatten in einem völlig überfüllten Saal, der sich dann auch noch mit vielen Fragenstellern miteinmischen durfte. Zuvor hatte Achim Güssgen vom Mitveranstalter, der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung, den Buchautor länger vorgestellt, der am 8. April 1935 in Tel Aviv geboren wurde und heute noch immer politisch und wissenschaftlich tätig ist und beispielsweise einen Studiengang initiiert hat, in dessen Rahmen das Zentrum für Europäische Studien an der israelischen Privatuniversität Interdisciplinary Center in Herzliya, die palästinensische Al-Quds-Universität in Ostjerusalem, und die Royal Scientific Society in Amman kooperieren.

Vom Ende der Veranstaltung her weiß man, daß das eigentlich Thema des Abends und des Buches der Verzicht auf Hemmungen auf beiden Seiten ist, das Thema Juden, Israel, Deutsche, Antisemiten überhaupt, noch dazu kritisch anzusprechen, weshalb er sagt: „Wir können es uns leisten, ehrlich miteinander zu sein“ und sollten das unterlassen, was dann gerne als deutsch-jüdische Mißverständnisse deklariert wird. Ulrike Holler bekannte sich dazu, auch sehr lange gehemmt gewesen zu sein, so offen gegen die ihrer Meinung nach falsche, weil nicht das friedliche Zusammenleben der Israelis und Palästinenser im Nahen Osten fördernde Politik der israelischen Regierung zu argumentieren, einfach, weil sie als Deutsche mit der Geschichte Nazideutschlands im Rücken sich nicht recht traute. Diese Bedenken sollten wir Deutsche lassen, befand Avi Primor in so generöser wie weltoffen aufgeklärter Art. Nach so vielen Jahrzehnten könne man die Beziehungen heute normalisieren und es sei immer besser, etwas auszusprechen, solche Offenheit müsse unter Freunden herrschen und als ein Freund Israels sehe er Deutschland und Israel brauche nicht nur Freunde, sondern auch kritische Freunde.

Er selbst ist nun das beste Beispiel dafür, wie man vom Paulus zum Saulus werde. Wie tief seine Vorurteile gegen das heutige Deutschland aufgrund der Judenvernichtung im deutschen Namen unter den Nazis waren – die gesamte Familie seiner Mutter aus Frankfurt ist im Holocaust ermordet worden -, zeigte sich auch daran, daß er, obwohl schon Botschafter in Brüssel, damals keinen Fuß auf den nahen deutschen Boden setzte, noch die Sprache lernen wollte, noch überhaupt mit diesem Land das geringste zu tun haben wollte. Man mag es nicht glauben, wenn man dann Avi Primor als ehrlichen Mittler zwischen den Welten, der israelisch bedrängten und der deutsch wiedervereinigten heute erlebt. Charisma ist eben etwas, was man nicht lernen kann und über die notwendige Freiheit, miteinander offen zu reden, in einem Buch zu schreiben, und dies im Gespräch auf der Bühne dann tatsächlich fertig zu bringen, sind zweierlei Dinge, die bedeuten, daß man das kluge und vernünftige Buch, das sich durch die Auflistung der häufigsten Vorurteile und ihrer Beantwortung durch Primor sehr leicht, will sagen strukturiert lesen läßt, kaufen sollte, aber auch die Gesprächs- und Vortragsreise durch die Bundesrepublik, die Avi Primor im Moment unternimmt, persönlich wahrnehmen sollte.

Ulrike Holler hielt sich bei ihren Fragen an den Autor nicht an die Reihenfolge der 12 Vorurteile, die einen Prolog und Epilog umfassen, sondern bündelte die wichtigsten, zu denen die Fama gehört, „Juden strebten nach der Weltherrschaft und seien eine verschwörerische , international agierende Gemeinschaft“ . Eine Meinung, die nicht nur Henry Ford vertrat, der sie dann zurücknahm, sondern die im 20. Jahrhundert sowohl im Dritten Reich wie auch im Kapitalismus Amerikas oder dem russischen Kommunismus gleichermaßen geäußert wurde. Dem ging Avi Primor mit einem geschichtlichen Rundumschlag, der es in sich hatte, an die Wurzel, die tatsächlich mit der Entstehung des Christentums und des Aufgehens aller möglichen Religionen im Christentum die Juden dann als die einzige nicht integrierbare Religion im Römischen Reich dastehen ließen, während für die Juden das Christentum nur eine (gescheiterte) Reformbewegung innerhalb des jüdischen Glaubens blieb.

Avi Primor hat wirklich die Fähigkeit, schwierige Sachverhalte verständlich und logisch öffentlich zu entwickeln, sei es die Frage um den Jesusmord – jeder Historiker weiß, daß dieser von den römischen Besatzern umgebracht wurde, aber jeder Unbedarfte beruft sich auf die Juden als Mörder – oder die heute schwelende Frage um die Existenzberechtigung der Palästinenser in einem eigenen Staat. Auch dazu, welche politischen Fehler permanent in Israel in dieser Frage gemacht werden, fand Avi Primor deutliche und scharfe Worte, aber er vergaß nicht, hinterherzuschicken, aus welchen Ängsten heraus sich Israel immer wieder falsch entscheide, weshalb alle die, die einen friedlichen Nahen Osten wollten, beides leisten müßten: Deutliche Worte an Israel zu richten, was die Aufgabe bisher besetzter Gebiete und sofortigen Siedlerrückbau angehe, aber auch durch Taten Verständnis für die Sicherheitsbedürfnisse der Israelis zu signalisieren.

Die Bundesrepublik habe sich tatsächlich zur zweitwichtigsten Stütze nach den USA entwickelt, was ihr und ihren Bewohnern auch das Recht gäbe, offen Kritik äußern zu dürfen. Der Antisemitismus in der Bundesrepublik habe nicht zugenommen, sondern eher ab. Das gelte für den gesamten Westen. Sehr eindrucksvoll ging Primor dann auf Diskussionsbeiträge ein, wie denen, weder wir noch ein normaler Israeli sei in der Lage, die Sicherheitsbedürfnisse Israels einschätzen zu können, weshalb man dies den Experten überlassen müsse. Da konnte man den radikalen Demokraten hören, der Demokratie nicht nur im Munde führt, sondern auf das Grundrecht von Meinungsfreiheit und politischer Entscheidungsgewalt durch Bürger stärker drängte, als wir das hierzulande gewohnt sind, wo doch sehr leicht dann an den „Sachverstand von oben“ geglaubt wird.

Die Nonchalance, die bei aller Deutlichkeit dennoch über den Worten schwebte, der Witz, der angesichts harter Wirklichkeit diese durchbrach, das ist etwas, was man für diesen Abend nur andeuten kann, was sich schwer in rüden Worten wiedergeben läßt. Mag die Geschichte, wie es zum Titel des Buches kam, für das geistig Flirrende stehen, wie Avi Primor sein Plädoyer für mehr Freiheit im Umgang zwischen Deutschen und Juden verpackte: „Ein älterer Jude aus Berlin findet sich plötzlich von Nazis umringt, die ihn zu Boden schlagen und höhnisch fragen: ’Na, Jude, wer ist denn schuld am Krieg? `

Der kleine Jude ist nicht auf den Kopf gefallen und antwortet: ’Die Juden und die Radfahrer. `

’Warum die Radfahrer? `, fragen die Nazis.

’Warum die Juden? `, kontert der alte Mann.“

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Avi Primor, Christiane von Korff, An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld. Deutsch-jüdische Mißverständnisse, Piper Verlag 2010

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