Willensfreiheit aus neurobiologischer, strafrechtlicher, philosophischer und theologischer Sicht – Serie: Willensfreiheit, Entscheidungen, Verantwortung und Schuld am Beispiel des Strafvollzugs und des Krankheitswesens (Teil 1/2)

Wie ist diese unerklärliche Tat zu erklären? Der Mensch auf der Straße würde voller Empörung die härteste Strafe fordern. Er hätte keinerlei Verständnis. Sicher sehr vereinfacht, der Hirnforscher würde sie als Resultat seiner Hirnprozesse erklären, so dass der Mörder sich nicht anders entscheiden konnte. Der Strafrechtler sähe sie als ein scheußliches, strafwürdiges Verbrechen entgegen der Rechtsordnung aus niederen Motiven an, würde lebenslange Haft oder in manchen Kulturen die Todesstrafe fordern, für das es höchstens bei schweren psychischen Erkrankungen Straffreiheit, aber dann eine Sicherheitsverwahrung gibt. Schließlich ist bekannt, dass eine Therapie bei Mördern in den seltensten Fällen weiter führt. Schwierig ist der Fall für das Strafrecht insofern, da es sich bis auf diese Tat und diese eine Paranoia ansonsten um einen vernünftigen, gebildeten und im Allgemeinen einsichtigen, also straffähigen Menschen handelte. Der Theologe sähe die Tat als eine Sünde wider Gott, für die es nur im Jenseits nach erfolgter Reue Verzeihung gäbe. Und der Philosoph? – für ihn weiß ich keine Antwort, höchstens, seine Antwort fiele je nach philosophischer Ausrichtung aus.

Die Neurobiologie und Hirnforschung hat in den letzten Jahren die Willensfreiheit und somit Schuldfähigkeit von Straftätern im Strafrecht infrage gestellt, hält den Strafvollzug zumindest für diskussionswürdig und hat durch ihre Thesen aus strafrechtlicher, philosophischer und theologischer Sicht vehementen Widerspruch geerntet. Eine Jahrtausende alte Tradition im Strafvollzug ist sozusagen auf den Kopf gestellt und ihre Grundfesten erschüttert. Das beunruhigt, macht Angst und schafft Aggressionen. Wie kann es sein, dass Straftäter für ihre Handlungen nicht mehr verantwortlich sind, da sie keine Entscheidungs- und Willensfreiheit besitzen sollen? Die Aussage der Hirnforschung ist, dass viele Straftäter durch ihre Hirnfunktionen determiniert und somit nicht mehr entscheidungsfähig sind. Im Strafrecht wird die Straffähigkeit lediglich bei schweren psychischen Erkrankungen und schweren Persönlichkeitsstörungen infrage gestellt. Aber ob die Folgen wie Sicherheitsverwahrung und sozialer Ächtung für den Täter humaner sind, bleibe dahingestellt.

Die Frankfurter Rundschau hat sich dieses Themas angenommen und in einer siebenteiligen Serie im Sommer 2010 Hirnforscher, Strafrechtler, Philosophen und Theologen zu Worte kommen lassen. Unter der Überschrift "Haltet den Richter!" – nicht "den Dieb!“ – erklärten gemeinsam der Neurobiologe Gerhard Roth und die Juristin Grischa Merkel als Antwort auf den Strafrechtler Winfried Hassemer ihren Standpunkt. Laut ihrer Aussage blieb der positive oder empirische Nachweis des Strafrechts aus, dass Straftäter entscheidungs- und somit schuldfähig sind. Insofern sei die Legitimationsgrundlage des Strafrechts nicht vorhanden. Zwar verfügen viele Straftäter über die Fähigkeit der Einsicht, können aber nicht ihr Handeln aus hirnorganischen oder psychischen Gründen danach ausrichten. Sie machen die frühe Prägung des Gehirns durch soziale Interaktion, die unser emotionales Erfahrungsgedächtnis formt, für die Schuldunfähigkeit verantwortlich, beklagen dessen mangelnde Berücksichtigung im Strafrecht und die Herabsetzung von Straftätern als Menschen zweiter Klasse und insofern eine mangelnde Beachtung der Menschenwürde. Schon Mitte/Ende der siebziger Jahre hatte die Psychoanalytikerin Ellen Reinke in ihrem Buch" Leiden schützt vor Strafe nicht”¦" die doppelte Bestrafung von Straftätern angeprangert.

Der Strafrechtler Michael Walter sieht durch die Verneinung der Willensfreiheit und der postulierten Zwangsläufigkeit unseres Verhaltens die Grundfesten des geltenden Schuldstrafrechts erschüttert, unserer sozialen Ordnung den Boden entzogen und dies als Provokation ersten Ranges. Er meint, wir können nicht zu passiven Opfern individualgeschichtlicher Vorfälle reduziert werden. Die Leugnung der Willensfreiheit stellt für ihn eine unzulässige Überinterpretation einzelner biologischer Hirnprozesse dar. Das an die Normbeachtung appellierende Kriminalrecht wäre dann eine große gesellschaftliche Lüge und alle Straftäter vom Wirtschaftskriminellen bis zum Vergewaltiger würden zu Opfern einer unwahren Freiheitsideologie gemacht. Er gibt aber Roth und Merkel insofern recht, dass die Möglichkeit alternativen Entscheidens schwer nachweisbar ist. Für ihn ist entscheidend, dass wir ohne die Vorstellung der Willensfreiheit schlicht nicht leben können.

Der Philosoph Peter Janich sieht in der Hirnforschung insofern einen Kategorienfehler, dass die Verschiedenheit der Kategorien des definierenden und des definierten Teils ignoriert wird, da dem Versuchsaufbau und den Experimenten der Neurobiologen eine Vorausschau aufgrund früherer Erfahrungen zugrunde liegen, so dass in das Definieren eine Selbstdefinition einfließt und Natur nicht von Kultur zu trennen ist.

In meinen Augen sind diese Kathegorien nicht scharf zu trennen. Das ist bei allen Definitionen insofern der Fall, dass die Definition gleichzeitig über die Erfahrungen und das Weltbild des Definierenden, also über ihn aussagt. In die Beobachtungen fliessen immer die Augen des Beobachtenden ein, sogar in den vermeintlich objektiven Erkenntnissen der Naturwissenschaften. Aus meiner Sicht könnte man insofern von einem Kategorienfehler sprechen, dass die Umsetzung von Hirnprozessen in Bilder, Wahrnehmungen, Entscheidungen und Verhalten noch nicht ausreichend geklärt ist, insofern sich die Naturwissenschaft in die Geisteswissenschaft einmischt, obwohl Körper und Geist eine Einheit bilden.

Für den Strafrechtler Klaus Lüderssen ist für die Schuldfähigkeit von entscheidender Bedeutung, ob sich eine zentrale Schaltstelle im Hirn, eine neuronale Repräsentation, das " Ich", finden lässt, oder ob das Gehirn dezentral organisiert ist. Für diese zentrale Schaltstelle hat die Neurobiologie bisher nicht den Nachweis erbracht. Für ihn entspricht ohnehin nur das Schuldprinzip der Würde des Menschen. Wenn bisher verborgene Hirnfunktionen entdeckt werden, die die partielle Zwangsläufigkeit im Handeln des Menschen nach sich ziehen, dann müsse der Kreis der ohnehin schon zahlreich gewordenen Schuldausschließungen erweitert werden. Die Bestrafung wäre in solchen Fällen ausgeschlossen und nur sichernde Maßnahmen im Rahmen der Menschenwürde währen zulässig. Resozialisierungsmaßnahmen hätten zur Voraussetzung, dass der Täter sein Unrecht einsehen könnte. Er geht sogar soweit, dass im Falle, wenn der Täter selbst nicht von der Legitimität der Strafvorschrift überzeugt ist, vor niemandem verlangt werden kann, dass er seine abweichende Meinung sozusagen auf dem Altar verfassungsrechtlich verbürgter Werte opfert.

Diese Überzeugung spiegelt aber nicht die Praxis des Strafvollzugs wieder. Dort werden uneinsichtige Täter härter bestraft als in ihre Schuld einsichtige. In Fernsehkrimisendungen kommen am Schluss oft die Straftäter zu Worte und erklären ihre Gründe. Dabei wird deutlich, dass sie ein ganz anderes Rechtsverständnis als unsere Rechtsordnung haben, also sich im Recht sehen. Die Mafia hält sich selbst für eine „ehrenwerte Gesellschaft“ und handelt nach anderen und ihren Gesetzen. Die Schuldfähigkeit von einer zentralen oder dezentralen Organisation des Gehirns abhängig zu machen, ist mir nicht ganz eingängig. Da eine zentrale Schaltstelle nicht gefunden wurde, ist von einer dezentralen Organisation auszugehen. Dieser Umstand spricht eher gegen eine Schuldfähigkeit. Eine zentrale Organisation entspricht aber einer tief verwurzelten Kultur, vor allem in monotheistischen Religionen, ganz im Gegensatz zur Naturwissenschaft, wo die Welt eine unendliche Ansammlung von sich gegenseitig beeinflussenden Schaltstellen und Zentren ist, aus denen sie ihre heutige Struktur entwickelt hat.

Für den Philosophen Michael Powell sind Straftäter sehr häufig in ihrer Urteils- und Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt. Sie können ihre Gewaltbereitschaft nur schlecht kontrollieren und kaum aus negativen Erfahrungen lernen, so dass Strafe wenig bewirken kann und zu den höchsten Rückfallquoten führt. Die Unterscheidung zwischen Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit liefert uns aber den Schuldbegriff. Auch wenn die Neurobiologie nicht zu einer fundamentalen Revision unseres Strafsystems führe, könne man ihre Erkenntnisse nicht ignorieren. Durch sie könne man eine klarere Vorstellung von Schuldfähigkeit und Verantwortung gewinnen. Schuldfähigkeit setze voraus, dass man anders hätte handeln und Gesetze und Normen einhalten können. Ob der Mensch etwas könne oder nicht, hänge nämlich von äußeren Umständen und seinen Fähigkeiten ab. Aber, die Forderung nach Aufgabe des Schuldprinzips widerspricht sich selbst. Wenn niemand mehr bestraft, zur Rechenschaft gezogen oder verantwortlich gemacht würde, könnte sich jeder Richter, der ungerecht bestraft, jeder Politiker, der schlechte Arbeit leistet, auf seine Schuldunfähigkeit berufen. Also muss auch eine fundamentale Reform des Schuldprinzips und Strafrechts die Vorstellung von Verantwortung und Schuldfähigkeit voraussetzen, die sie wiederum selbst bestreitet.

Der katholische Moraltheologe Franz- Josef Bormann meint, die Frage nach dem rechten Verständnis von Freiheit, Schuld und Verantwortung sei nicht nur eine Frage der Rechtswissenschaft und der Hirnforschung. Kristallisationspunkt seien auch die Zuständigkeitsbereiche und die Spielregeln. Er hält die Daten und Behauptungen der Hirnforschung vielmehr für das Ergebnis einer wissenschaftstheoretisch unreflektierten Hybris, die die Reichweite naturwissenschaftlicher Tatsachen heillos überschätzt. Das freie Entscheidungen von ihren physiologischen Vorgängen begleitet sind, können weder deren Freiwilligkeit erschüttern, noch einen strengen Determinismus begründen. Da die wirklich fundamentalen Naturgesetze zudem keine Gesetze über die zeitliche Abfolge von Ereignissen seien, sondern vielmehr die Korrelation zwischen bestimmten physikalischen Kräften betreffen, könnten diese Gesetze den Weltlauf auch nicht deterministisch fixieren. Die Ebene des „Entscheidens, Beabsichtigens oder Überlegens“ unterscheide sich von der naturwissenschaftlichen Ebene bestimmter quantifizierbarer Bereitschaftspotenziale in verschiedenen Hirnarealen. Dort sieht er den oft erhobenen Vorwurf des Kategorienfehlers.

In der Debatte um die Willensfreiheit sieht er nicht nur die Entscheidungsfähigkeit, sondern eine vielschichtigere Kompetenz wie die Fähigkeit, Handlungsabläufe zu entwerfen, zu verfeinern und zu revidieren, eigene Wünsche und Sehnsüchte auf ihre Berechtigung und Realisierbarkeit überprüfen und notfalls zu korrigieren. Eine absolute Freiheit gebe es nur bei Gott. Menschliche Freiheit sei dagegen immer aufgrund ihrer kreatürlichen Verfasstheit eine begrenzte Freiheit und tief in die sozialen Verhaltenserwartungen unseres alltäglichen Miteinanders eingeschrieben. Die Eigenverantwortlichkeit stelle die Menschenwürde dar. Wer die menschliche Freiheit grundsätzlich leugne, leugne nicht nur unsere Rechtsordnung, sondern auch „unsere Welt“. Freiheit und Verantwortung sei nicht zu trennen, gehören zusammen, sind aber voneinander zu unterscheiden.

Verantwortung sei ein dreidimensionaler Begriff, der die Beziehung zwischen einem Subjekt, einem Gegenstandsbereich und einer Instanz bezeichne, vor der sich das Subjekt für sein Handeln zu verantworten habe. Hinsichtlich jeder dieser drei Pole bestehe die Gefahr der Sinnverkürzung. Meist werde unter dem Subjekt der Verantwortung der private Akteur verstanden und alle institutionellen und kollektiven Handlungssubjekte ausgeblendet, obwohl deren Handeln etwa im Bereich von Politik und Wirtschaft mittlerweile die viel größeren Gefahrenpotenziale enthalte. Hinsichtlich des Gegenstandsbereich schränken wir den Verantwortung gerne auf die Folgehaftung ein und übersehen eine vorausschauende Vorsorgeverantwortung. Der dritte Pol, die Instanz kontrolliert und sanktioniert umso besser, je individueller und lokal begrenzter der jeweilige Träger handelt und klammert institutionelle Verantwortliche oft aus.

Die Ausführungen über die Verantwortung und dessen, was er Sinnverkürzung nennt, kann ich voll unterschreiben. Die Freiheit Gottes, Unglück und Elend in die Welt zu bringen, vor allem wenn sie selbst betroffen sind, lässt manche gläubige Christen an seiner Allmacht verzweifeln und mit Gott hadern. Für dogmatische Christen ist dies eine Prüfung des Glaubens an Gott, siehe Hiob und die Hiobsbotschaften, und eine Hybris, sich über Gott zu stellen und seine (Un)Taten zu beurteilen. Die angeführte vielschichtigere Kompetenz, Handlungsabläufe zu entwerfen, haben viele Menschen nicht.

Als Letzter kommt der Philosoph Lutz Wingert zu Wort. Für ihn fassen die Hirnforscher die soziale Welt zu sehr als ein Fall technischen Handelns auf. Er hebt neben der Schuldfähigkeit den Begriff des Verdienstes im Sinne der sozialen Achtung hervor. Wenn man auf den Schuldbegriff verzichten würde, könnte man nicht die Wiederherstellungsfunktion des Strafrechts erfassen. Das Strafrecht soll die beschädigte soziale Beziehung wie durch Schadensersatz und Opferschutz wiederherstellen. Die Strafpraxis und die sie tragenden Denkmuster sind jedoch keine heiligen Kühe, nur weil die Praxis eingespielt und die Denkmuster eingefahren sind. Insofern hält er die Abschirmung gegenüber der Neurowissenschaft nicht von vornherein für gerechtfertigt. Es gehöre zu den philosophisch eindrucksvollen Ergebnissen, dass die Hirnforschung viele Fälle vorführe, in denen wir uns nicht nur über die Beweggründe unseres Tuns täuschen, sondern auch noch über die Art dieses Tuns (Konfabulieren). Eigenes, gewolltes Benehmen sei oft ein Marionettenverhalten, das zum Teil durch Magnetstimulation des Gehirns erzeugt werden könne.

Naturgemäß konnte ich aus den meist zweiseitigen Beiträgen nur Auszüge anführen. Sowohl Hardliner als auch humane Wissenschaftler, die die verschiedenen Aspekte anerkannten, kamen zu Wort. Deutlich wurde die Aggression der Geisteswissenschaftler auf die Naturwissenschaft, sich in ihre Domäne einzumischen oder sie sogar mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu okkupieren, obwohl Gerhard Roth bei der Prägung der Gehirnprozesse durchaus die in sozialen Beziehungen eingebetteten geistigen und emotionalen Prozesse einbezog. Diese Aggression kann ich als Arzt durchaus verstehen, da auch im Gesundheitswesen emotionale soziale Prozesse auf naturwissenschaftliche Erklärungen, etwa in der Anlage oder im Transmitterstoffwechsel, reduziert werden. Diese Vorgänge tragen in keiner Weise dem Erkrankten in seinen sozialen Bezügen Rechnung. Der ursprüngliche Siegeszug der naturwissenschaftlichen Medizin über den mittelalterlichen Aber- und Geisterglauben hat sich zum Teil ins Gegenteil verkehrt und sich zu einem neuen Aberglauben an die Technik ausgewachsen.

Auffallend ist, dass kein Psychologe, Entwicklungspsychologe, Tiefenpsychologe oder Psychoanalytiker zu Wort kam. Ob diese Auswahl Zufall oder Absicht ist, bleibe dahingestellt. Jedenfalls kann in meinen Augen die Psychoanalyse eine fundierte Aussage treffen, die zum Teil mit der Aussage der Hirnforschung übereinstimmt, wenn diese wie Gerhard Roth die sozialen Prägeprozesse mit ihren Niederschlägen im Gehirn einbezieht. Dazu gibt es eine neue Forschungsrichtung, die Epigenetik. Nach ihren Erkenntnissen werden in der Kindheit durch soziale Einflüsse Gene ein- oder ausgeschaltet und das kann lebenslang bestehen bleiben. Nach psychoanalytischen Erkenntnissen ist es ein alter Hut, dass der Mensch nicht Herr seines Seelen- und Innenlebens ist und oft sozusagen von dunklen Mächten beherrscht wird. Die Sichtweise dieser Disziplin, so wie ich sie mir angeeignet habe, also nach meinem Erfahrungsstand, möchte ich deswegen im nächsten Teil der Serie nachholen.

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