Musikvermittlung »wie«, wurde breit diskutiert. Doch es ging nur um die Deutschen. In jeder Großstadt leben jedoch zehntausende Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund. Nach Istanbul sei Berlin die zweitgrößte türkische Stadt, wie Pamela Rosenberg, vormalige Intendantin der Berliner Philharmoniker, einmal bemerkte. Meine Frage, ob diese Menschen »dazugehören«, löste Verlegenheit aus. Hier und da gibt es gute Ansätze einer Zusammenarbeit, wie gemeinsame Konzerte des Deutschen Symphonie Orchesters Berlin (DSO) und der Berliner Symphoniker mit dem Konservatorium für türkische Musik Berlin, die ein vielsprachiges Publikum in die Philharmonie ziehen. Aber es macht mehr Arbeit, weiß Alexander Steinbeis, Orchesterdirektor des DSO. Nach der Erfahrung von Martin Tröndle, Professor für Kulturbetriebslehre, braucht man dafür Mitarbeiter aus der Nation, die man ansprechen will. Das gilt jenen Politikern, die von Integration schwadronieren, aber nicht das nötige Geld bewilligen. Nichtsdestoweniger blieb dies Thema unterbelichtet.
Die einzige kontrovers diskutierte Frage: hat die klassische Form des Sinfoniekonzerts eine Zukunft? Für Anselm Rose, Intendant der Dresdner Philharmonie und Vorstand des Orchestertages, ist das normale Konzert ein Auslaufmodell. Zu überlegen sei: schaffen wir neue Konzertformate, die die Zukunft darstellen? Wolfgang Fink, Intendant der Bamberger Symphoniker, plädierte hingegen für das Sinfoniekonzert, weil gerade die neue Musik aus der Erfahrung des Sinfoniekonzerts entstanden sei. Das Konzert sei eine phantastische Herausforderung, mit der sein Orchester eine hohe Auslastung erreiche.
Rituale war eines der Hauptschlagworte auf dem Orchestertag. Gemeint sind Gewohnheiten beim Konzertbesuch, sowohl vom Repertoire als auch von den Erwartungen und dem Verhalten der Besucher her.
Ein Ritual des Orchestertages selbst ist die alljährliche Aufrüstung der Intendanten gegen die Musikergewerkschaft Deutsche Orchestervereinigung (DOV). Rolf Bolwin, Direktor des Arbeitgeberverbands Deutscher Bühnenverein (DBV), ließ es sich angelegen sein, den Orchesterchefs seine Sicht des aktuellen Konflikts mit der DOV nahezubringen. Noch vor zwei Jahren ließ die Leitung beide Kontrahenten auftreten, was einer ausgeglichenen Meinungsbildung dienlicher war. Nicht ohne Verärgerung sieht Gerald Mertens, Geschäftsführer der DOV, dass der DBV »sich draufsetzt« und mit einer finanziellen Unterstützung den Orchestertag vereinnahmt. Die Orchesterleitungen befinden sich im Zwiespalt. Einerseits müssen sie mit den ihnen vom Staat, von den Kommunen, von Förderern und Sponsoren zugewiesenen Mitteln auskommen. Tariferhöhungen für die Musiker werden zum Problem, wenn die Träger nicht bereit sind, höhere Mittel zu bewilligen, was fast zur Regel wird. Andererseits brauchen sie gute Musiker, insbesondere auf den Solostellen, die mit angemessener Bezahlung gewonnen oder gehalten werden müssen. Gute Bezahlung dient eben nicht nur der Sicherung eines bequemen Beamtenlebens, wie es die Berliner Zeitung den streikenden Musikern der Berliner Opernorchester unterstellte, sondern ist ein Erfordernis der künstlerischen Qualität. Da im Kapitalismus – mal abstrakt gesehen – die Arbeitskraft eine Ware ist, hat sie eben einen Wert, und wer den Gebrauchswert will, muss sich bequemen, auch den Wert in Form des Lohns zu bezahlen. Gerade Musiker haben eine sehr lange Ausbildungszeit und ihre »Kondition« verlangt ständige Übung – sehr wohl ein wertbildender Faktor, der selten gewürdigt wird. Dass die Bäume der Musiker nicht in den Himmel wachsen, garantiert schon der Tarif im Öffentlichen Dienst, an dessen Entwicklung der Orchestertarif angeglichen wird. Die kann, wie in Berlin, auch Lohnverzicht bedeuten.
Nach jahrelangem Kampf hatten die Parteien zum 1.Januar 2010 einen neuen Orchestertarifvertrag abgeschlossen. Nun zeigt sich, dass mit dem Vertrag nichts geklärt ist. Im alten Vertrag wurden die Gehälter »automatisch« den Erhöhungen im Öffentlichen Dienst angeglichen, je nachdem, ob das Orchester zum Tarifbereich der Länder oder der Kommunen gehörte. Nach dem neuen Vertrag werden die Tarife »sinngemäß« angepasst – ein »Kompromiß«, in dessen Folge die Mehrheit der Musiker ihre Gehaltserhöhung ab 1. Januar 2010 noch nicht erhalten hat. Die DOV beharrt auf der eindeutigen langjährigen Regelung, während der Bühnenverein das »Sinngemäß« so auslegt, der Tarif könne abweichend von der Laufzeit im Öffentlichen Dienst und stufenweise angepasst werden. Aus den Tarifen der Länder und der Kommunen will er einen Mittelwert bilden. Einmalzahlungen wie im Öffentlichen Dienst lehnt er ab. Da eine Vergütungsordnung nicht zustandekam, erlässt der DBV einseitig Empfehlungen, wann und wieviel gezahlt werden soll. Logischer Schluß: Wer das Prinzip aufweicht, der will es abschaffen. Die DOV strengt nun eine Verpflichtungsklage an, die am 6. Januar in zweiter Instanz verhandelt wird. Falls der DBV unterliegt, kündigte Bolwin bereits Verfassungsklage an. Unterliegt die Gewerkschaft, müssen die Musiker nach Mertens ´ Ansicht eventuell jedes Jahr streiken, um einen Vergütungstarif zu erzwingen. Die Gewerkschaft muss sich freilich fragen lassen, ob sie im Jahre 2009 ihre Streiks für eine glasklare Klausel nicht zu früh abgebrochen hat. Der Fluch des Kompromisses!
Am Rande des Orchestertages wurden existenzielle Sorgen einiger Orchester diskutiert. Die Schweriner Staatskapelle steht unter dem Druck von Sparmaßnahmen der Landesregierung. Sogar das Gespenst einer Fusion mit der Norddeutschen Philharmonie, Rostock, geht um. Dem Kurpfälzischen Kammerorchester Mannheim will das Land Rheinland-Pfalz seinen Zuschuss bis 2015 von 179 000 Euro auf Null kürzen. Die Stadt Ludwigshafen strich ihren Zuschuss von 50 000 auf 2 200 Euro zusammen. Gehaltserhöhungen gab es seit 2002 nicht mehr. Den Verlust eines Fünftels seines Etats könnte ein Orchester von 14 Musikern nicht überleben. Der Nordwestdeutschen Philharmonie Herford droht durch Kürzungen der Trägerkommunen ein Defizit von 10 Prozent des Etats. Aus Vorsicht werden die tariflichen Gehaltserhöhungen nicht gezahlt. Halberstadt als Musiktheaterstandort ist gleich ganz gefährdet, weil Halberstadt, Quedlinburg und der Landkreis Harz ab 2013 die Zuschüsse um 1,6 Millionen Euro kürzen. Es rührt an das Selbstverständnis der Macher des Deutschen Orchestertages, warum die Tagung diese Probleme nicht öffentlich machte. Das »Verständnis« des DBV für das Aussetzen der Gehaltszahlung hilft da nicht weiter. Vermeidung von offenen Konflikten nützt den »Dinosauriern« in München, Hamburg und Berlin, wie ein nicht genannt sein wollender Intendant sie nennt, nicht aber den Unterprivilegierten. Ohne Schutz der Schwachen wird das Orchestersterben weitergehen.