Sie sind dann auch im Bereich der Klosterwuhne als herrenlose Tiere gesichtet worden, was dann einen Polizeieinsatz auslöste, der die Flüchtigen verfolgte. Aber der Zeuge, der herrenlose Tiere gesichtet hatte, hatte sie als „rumstrochelnde Ziegen“ wahrgenommen. Als ob er den Paragone, wer wichtiger und schöner sei: Schafe oder Ziegen, im Roman „Garou“ gelesen hätte. Deshalb hatte die Volksstimme schon am Donnerstag vom „Ziegenalarm“ gesprochen, worauf sich erst der Schafsbesitzer meldete, der sicher seine Tierchen schon auf der Schlachtbank wähnte, die aber nun im Tierheim vorübergehend übernachtet hatten. Was die uns jetzt wohl erzählen könnten!
Nein, wir sind nicht im dritten Schafsroman der Leonie Swann, sondern meinen nach dem Lesen des 415 Seiten starken Buches und dem Hören der 5 CDs schlicht, daß man die angeblich dummen Schafe und die strohdummen Ziegen fürderhin nie wieder unterschätzen sollte. Wir auf jeden Fall nicht. Wir haben uns nämlich in die von Leonie Swann vorgestellten Ermittler in Tiergestalt verguckt, hören ihre so unterschiedlichen Stimmen – deren Höhenlage, die Aussprache, die ganze Diktion der einen oder anderen – noch immer in unserem Ohr, in das dann manchmal die Stimme von Andrea Sawatzki fällt. Leonie Swann ist nämlich ein absurdes und höchst poetischen Werk gelungen, das so wundersame Erkenntnisse über die Welt und über das Leben enthält, daß man sich wünscht, so ein Schaf – oder eine ganze Herde – möge einen als Korrektiv beim Schreiben und Leben selbst begleiten.
Zugegeben, wir kennen das erste Buch „Glennkill“ überhaupt nicht, mit dem Leonie Swann ein kaum glaublicher Erfolg gelang: in 25 Länder die Übersetzungsrechte, Krimidebut 2005 mit dem Friedrich-Glauser-Preis und bis heute zwei Millionen Mal im deutschsprachigen Raum verkauft. Dort in Irland hatten, das allerdings wußten wir durch die öffentliche Berichterstattung schon, eine Herde Schafe die Ermittlungen aufgenommen, als ihr Schäfer Georg mit einem Spaten in der Brust nicht weiterleben konnte, und den Mörder erwischt. Das war als Hauptkommissarin die Schafsdame Miss Maple mitsamt ihrer Herde, wissen wir heute und ein Schelm, wer dabei an Agatha Christie denkt.
Mag ja alles stimmen, daß „Glennkill“ ein Überbuch war, ein Geniestreich einer Debütantin, und der Riesenerfolg für die junge Autorin einen enormen Druck bedeutete, den der Verlag mit einem Fortsetzungswunsch nicht gerade linderte, ihr aber Zeit ließ, die sie brauchte, denn was beim ersten Mal erfunden wird und aus dem Fabulieren heraus als Ideen und Personen von alleine entspringt, hat es schwerer, wenn die originelle Idee ein zweites Mal Früchte tragen soll, erst recht, wenn die ersten so proper geraten waren.
Wie gesagt, wir kennen „Glennkill“ nicht, dafür jetzt aber „Garou“ und den gleich doppelt, einmal als Lektüre und einmal als Hörbuch, in genau dieser Reihenfolge. Das ist wichtig, denn beim Hören hätten wir manchmal schwören können, daß wir diesen und jenen Satz nie gelesen hätten, der nun so eindringlich ins Ohr tröpfelte. Flugs kontrollierten wir und sahen, es war unser Auge, der überlesen hatte, was das Ohr nun festhielt. Dabei hätten wir geschworen, jedes Wort, jeden Satz, jede Seite gelesen zu haben. Lesen und Lesen ist eben zweierlei. Es unterlaufen also doch Abwesenheiten oder man liest zwar und registriert inhaltlich nicht? Wie auch immer, es war ein Erlebnis nach dem Lesen noch zu hören und das liegt sicher auch an der modulierenden Stimme der Andrea Sawatzki.
Die Geschichte selbst geht kurz gesagt so: die herrenlose Herde hat die Tochter Rebecca geerbt, die aus Kostengründen über den Winter nach Frankreich geht, wo die enttäuschten Schafe nicht das Land der Apfelbäume und langen Brote vorfinden, sondern Eis und Schnee mitsamt einem düsteren Schloß und einem unheimlichen Wald. Vor allem aber einen sadistischen Tierarzt, der eigentlich ein harmloser Schafscherer ist, aber zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden, wird eines der Lernprogramme der Schafe werden. Noch schlimmer kommt es mit den Ziegen. Denn diese ungezogene Rasselbande, frech und verwegen, sind gewitzt und klug – vor allem verstehen sie dieses Europäisch, das den irischen Schafen ein Graus ist. Und nun das Allerschlimmste: der Garou.
Ein loup garou ist ein Werwolf. Den kennt doch jeder. Die Schafe kommen erst nach und nach drauf, daß da was nicht stimmt. Ein Werwolf ist nämlich eigentlich ein Mensch, der sich des Nachts bei Vollmond in dieses blutrünstige Tier verwandelt und seine Opfer reißt und auch frißt. Aber dieser Garou, der spielt nur den Garou, denn er läßt seine Opfer wie auf einer kunstvollen Bühne mitten im Wald liegen, meinen neben Miss Maple, auch Othello, Mopple the Wahle, Zora, Sir Ritchfield und das Winterlamm, das endlich einen Namen erhält. Und sie haben mächtig Angst um ihre Schäferin Rebecca, die nur den Schloßbesitzer im Auge hat und gar nicht mitbekommt, in welcher Gefahr alle schweben.
Doch, doch, von den Schafen und Ziegen wird alles aufgeklärt und die Unholde überführt. Aber darum ging es uns gar nicht mehr. Denn tatsächlich hat das Buch – auch das vorgelesene – Längen, tatsächlich ist vieles in der Handlung überkonstruiert, und die Erzählstränge sind nicht immer gut durchschaubar, das heißt, die Personen gehen einem schon mal quer. Das aber hat uns alles nichts mehr gemacht, weil die überlegenden, sprechenden, handelnden Schafe einen Eigenwert gewinnen, daß wir staunend und fast verliebt ihren Worten und Gesten und Taten lauschen. Auch den Dummheiten.
Tatsächlich ist Leonie Swann ein skurriles, wundersames, poetisches Buch gelungen, das wir überhaupt nicht überfrachten wollen, zu dem wir aber sagen wollen, daß wir es zunehmend gerne gelesen haben und uns über den sprachlichen und gedanklichen Einfallsreichtum der Schafherde – der Ziegen nicht minder – einfach gefreut haben. Wir haben auch die psychologische Differenzierung – nicht die biologische – zwischen Schafen und Ziegen allein an der Wortwahl nachvollziehen können – und im Ernst war das eine der Stolperstellen, an der ein Hörbuch hätte scheitern können. Und gerade das schafft Andrea Sawatzki glänzend und sie läßt uns auch hören, daß wir endlich die Ziegen: Madouc, Megära, Amaltée, Circe, Kalliope, Kassandra, Bernie und die einhörnige Ziege auch hier zu Wort kommen lassen und hinzufügen, daß wir auch Schafe unterschlugen, die junge Heide und ihr Pendant Ramses, der Ungeschorene, vor allem der alte Melmoth und Willow sind auch noch da, oder sehen manche Schafe sich unter bestimmten Umständen verdoppelt und Ziegen auch?
Überfrachtet wäre das Buch, wollte man von ihm erwarten, was Fabeln vormachen, nämlich das Menschliche, Allzumenschliche im Tier wiederzuentdecken. Nein, das ist kein tiefsinniger, philosophischer Roman, sondern einer, der aus der uns zuvor unbekannten Schafswelt ein Kapitel aufschlägt, das wir im Schaf und in der Ziege uns zwar alle wiederfinden, aber nicht belastet von irgendeiner Moral, es sei denn der, daß Lesen bildet. Bei Andrea Sawatzki werden die Ziegen noch wichtiger als im Buch selbst. Das aber liegt daran, daß es ihr – und uns – einen Heidenspaß macht, das Meckernde, Näselnde, Zickige der vorgeblichen Ziegensprache lautmalerisch wiederzugeben. So haben wir, die wir zuerst lasen, auch nur einen einzigen Kritikpunkt an den CDs. Wir finden es albern, in einem deutschen Text, die irischen Schafe wie Zora auf Englisch auszusprechen. Natürlich las man „Zora“, einen Namen, den es auch auf Deutsch gibt. Die Schafe und Ziegen hätten das nie gemacht, sich Fremdländisch zu geben.
Leonie Swann, Garou, Goldmann Verlag
Leonie Swann, Garou, gelesen von Andrea Sawatzki, Random House Audio